Unter Markschlag / Tschechien

Die Zerstörung der Heimat der Mutter meines Vaters ist vielleicht nicht nur symptomatisch für die Geschichte meiner Familie, sondern für die Geschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt.

Erst zu Ostern 2005 brachte ich in Erfahrung, wo die Mutter meines (1975 verstorbenen) Vaters geboren war und aufwuchs. Beim Durchstöbern alter Fotos kam eine Art Ansichtskarte zum Vorschein, die sie selbst, ihre Eltern sowie zwei Schwestern (angekreuzt – meine Großmutter dürfte das kleinste Mädchen links von der Mitte sein) und Bekannte vor dem elterlichen Gasthof in einem Ort namens Unter Markschlag (Dolní Hraničná, Dolní Markschlag, Dolní Marktschlag) zeigt – im Jahr 1908, wie der Rückseite des Fotos zu entnehmen ist.

Eine Recherche erbrachte ein überraschendes und gleichzeitig berührendes Ergebnis:
Der Ort, eine Ansammlung von vielleicht 15 Häusern, gehörte zu einem ehemals deutsch besiedelten Gebiet gleich hinter der heutigen tschechisch-österreichischen Grenze rund um den Zentralort Deutsch-Reichenau. Offenbar wurden alle diese Siedlungen in den 1950er Jahren geschliffen. Nichts davon war meiner Erinnerung nach jemals innerhalb meiner Familie zur Sprache gekommen. Dass meine Großmutter ab und zu scherzhaft als “Hedwiga Bangerlova” bezeichnet wurde, war der einzige Hinweis darauf, dessen Gehalt mir als Kind aber unverständlich blieb.

Klar: Meine vor rund 20 Jahren verstorbene Großmutter gehört deswegen nicht zu den Vertriebenendeutschen – sie hatte den Ort schon vor 1920 Richtung Linz verlassen, offenbar als Arbeitsmigrantin. Trotzdem entstand dadurch für mich zumindest eine indirekte familiäre Verbindung zum Schicksal der “Sudetendeutschen”. Über das Schicksal anderer Familienangehöriger wird sich wahrscheinlich kaum Näheres in Erfahrung bringen lassen – Kontakt zu diesem Teil der “Familie” besteht bereits seit Jahrzehnten nicht mehr.

Ich veröffentliche dieses Foto und diese Informationen aus zwei letztlich identischen Gründen: Als Gegenmittel sowohl gegen den Verlust der Geschichte im Allgemeinen (das Foto ist derzeit und meines Wissens das einzige im Internet veröffentlichte visuelle Dokument der Existenz von Unter Markschlag) als auch den Verlust der eigenen Herkunft oder der eigenen Geschichte.

Von solchen Verlusten scheinen die Menschen, von welchen ich abstamme, sowohl jene der väterlichen wie mütterlichen Linie, in mehrfacher Hinsicht betroffen zu sein – vor allem in seelischer; die physische Zerstörung der Heimat meiner Großmutter ist dabei wahrscheinlich nicht einmal der folgenschwerste. Allerdings dürfte dieser Umstand eingedenk der historischen Vorfälle seit Ende des 19.Jhdts. (Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, zwei Weltkriege etc.) auch ein Merkmal der gesamten betroffenen Generationen sein.