Leben wir auf Kosten der Dritten Welt?

von Peter Wahl

Die These, wir - d.h. die Bevölkerung der Industrieländer, unabhängig von deren sozialer Differenzierung - würden auf Kosten der Entwicklungsländer leben, hat im emanzipatorischen Milieu schon seit längerem eine gewisse Verbreitung. Diskutiert wird sie schon im 19. Jahrhundert, z.B. durch Marx, der in der Ausbeutung der Kolonien eine Quelle der ursprünglichen Akkumulation im Kapitalismus gesehen hat, allerdings differenziert als ein Faktor neben der Pauperisierung und Proletarisierung der Bauern und der direkten Ausbeutung des damals als Klasse noch jungen Industrieproletariats.

Mit dem Aufkommen verschiedener Imperialismustheorien, u.a. von Hilferding, Rosa Luxemburg und Lenin, wurden neue Entwicklungstrends verarbeitet. Allerdings wurde auch damals der Ressourcenfluss von Süd nach Nord als ein Faktor unter anderen und nicht als einzige Quelle von Reichtum angesehen. Lenins These von der "Arbeiteraristokratie" ging dabei so weit, dass sie eine Interessenkonvergenz zwischen Kapital und Teilen der Arbeit an der Ausbeutung des Südens feststellte. Aber wie der Begriff Arbeiteraristokratie schon sagt, es handelte sich nur um einen Teil der Arbeiterklasse.

In den sechziger und siebziger Jahren erlebte im Zuge des Diskurses von der "Konsumgesellschaft" und mit dem Aufkommen der Solidaritätsbewegung mit der Dritten Welt die „Wir-leben- auf-deren-Kosten“-These ein Revival. Sie ist meist verbunden mit der Aufforderung, dass "wir" von "unserem Reichtum" abgeben sollen. Auch wenn der dahinter stehende Altruismus eine moralisch respektable Haltung ist, sachlich ist das Argument nicht haltbar.

Denn die mit Abstand größte Quelle von Reichtum ist die Wertschöpfung innerhalb der metropolitanen Volkswirtschaften. Oder, wenn man es marxistisch mag: es ist primär der Mehrwert, der sich aus der Dialektik von Lohnarbeit und Kapital ergibt, der den gesellschaftlichen Reichtum generiert. Dabei gilt: je höher die technologische Entwicklung und damit die Produktivität ist, umso geringer der Anteil an Extraprofiten aus anderen Quellen. Daher ist die Bedeutung der Dritten Welt für die High Tech Gesellschaften heute geringer als im 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ausdruck dessen ist u.a., dass ganze Regionen, wie das subsaharische Afrika, von der Weltwirtschaft fast abgekoppelt sind. Der Anteil Afrikas am Welthandel ist in den letzten 20 Jahren um die Hälfte gesunken.

Dennoch existieren natürlich Mechanismen der Umverteilung von Süd nach Nord. Dazu gehören vor allem:

1. der seit Jahrzehnten als Grundtrend zu beobachtenden Verfall der terms of trade, d. h. der Preisverfall der Rohstoffe im Vergleich zu Industriegütern;

2. die Verschuldung, d.h. ein Nettofinanztransfer aus Schuldendienst seit den 80er Jahren;

3. Finanztransfers, die sich aus der Währungshierarchie ergeben, z.B. durch stetige Abflüsse aus den Währungsreserven der Entwicklungsländer;

4. Umverteilungsschübe aus Währungs- und Finanzkrisen;

5. Profittransfer von TNCs in den Norden;

6. Wettbewerbsverzerrungen durch Subventionen und Protektionismus;

7. Brain Drain

8. Off-Shore Zentren und Steuerparadiese.

Die meisten dieser Posten sind quantifiziert worden. Grob geschätzt kommt man auf 400 bis 800 Milliarden US-Dollar jährlich, die über diese Kanäle von Süd nach Nord fließen. Natürlich ist es eine zentrale Aufgaben, durch entsprechende Strukturveränderungen diese Umverteilungsmechanismen außer Kraft zu setzen und durch einen umgekehrten Ressourcenfluss nach Süden zu ersetzen. Aber wenn man die 400-800 Mrd. Dollar mit dem zusammengefassten BIP der Industrieländer (gegenwärtig ca. 30 Billionen US-Dollar) vergleicht, dann sind das nicht mal 3%. In dieser Größenordnung entsteht gegenwärtig Reichtum der Industrieländer aus Quellen im Süden, oder in dieser Dimension, könnte man sagen, leben die Industrieländer auf Kosten von Entwicklungsländern.

Allerdings wäre dann auch noch zu klären, was von den 3% bei wem ankommt. Die Ressourcenflüsse aus Schulden und anderen Finanzmarktmechanismen und der Profittransfer der TNC wandern angesichts der Verteilungsstrukturen bei uns praktisch vollständig in die Taschen der institutionellen Anleger und Shareholder. Ein Durchsickern eines Teils dieser Ressourcen auf die Gesamtbevölkerung gibt es lediglich über billige Rohstoffpreise, den Brain Drain, Subventionen und Protektionismus.

Überdies sind entscheidende Veränderungen in den Entwicklungsländern durch Ressourcentransfer nicht zu erreichen. Der Export von Entwicklung funktioniert so wenig wie der Export von Revolution. Die Geschichte eines halben Jahrhunderts Entwicklungshilfe sind da sehr instruktiv. Wirkliche Durchbrüche sind nur zu erreichen durch: a. eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Strukturen zugunsten sozialer Gerechtigkeit, b. eine Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen in den Entwicklungsländern selbst, vorneweg der Verteilungssituation.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob "wir" etwas abgeben müssen, in einem anderen Lichte. Wer das tun möchte, kann es. Und es geschieht ja auch in großem Umfang durch Spenden und andere karikative Aktivitäten. Eine verbindliche Forderung an Otto Normalverbraucher aber lässt sich daraus weder ökonomisch noch moralisch ableiten, und schon garnicht an die immer größer werdende Schicht der Prekarisierten in diesem Land. Die offizielle Armutsgrenze verläuft lt. jüngstem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung bei 934 Euro Nettoeinkommen. Darunter liegen nicht nur sämtliche Hartz IV Empfänger sondern inzwischen auch einige Millionen "working poor". Und die, die etwas drüber liegen, leben auch noch lange nicht im Überfluss.

All das darf nicht verwechselt werden, mit den Fragen nach den Asymmetrien im Umweltverbrauch, "unserem" (auch hier ist die Konstruktion eines Kollektivs eine problematische Angelegenheit) Lebensstil, oder die nach historischer Wiedergutmachung. Auch nicht mit dem Problem der Abhängigkeit der Industrieländer von Rohstoffen, wie Öl etc. Das sind legitime und wichtige, aber eben auch andere Themen. Mit einer ökonomischen Umverteilung von "uns" an die Armen in die Entwicklungsländer haben sie weder zu tun, noch könnten sie damit gelöst werden.

Biesdorf, April 2005