Defizite im Diskurs über Ökonomie

Eine Debatte über Alternativen zum Kapitalismus, eines meiner Hauptanliegen, sollte idealerweise auf einem korrekten Verständnis dieser Wirtschaftsweise beruhen. Der aktuelle Diskurs über Ökonomie – auch der sich selbst als “alternativ” verstehende (!) – weist aber schwerwiegende Defizite auf, die eine solche Debatte behindern bzw. fehlleiten.

Zu diesen Defiziten gehören m.E. jedenfalls – in loser Ordnung – die folgenden:

Unverständnis von “Geld” und Geldschöpfung

Auf diesem Unverständnis beruhen einige weitere Trugschlüsse oder Irrtümer, insbesondere über den Zusammenhang von Ersparnissen und Investitionen. Mehr dazu siehe Geldschöpfung und die Folgetexte.

Die praktischen Konsequenzen dieser Irrtümer sind kaum zu unterschätzen: Ein Großteil der aktuellen Wirtschaftspolitik ist von dieser falschen Vorstellung geprägt, inklusive Entwicklungsökonomie, Wachstumsstrategien, die Pensionsreform und die Diskussionen darüber usw. usf.

Natürlich ist den meisten ÖkonomInnen der Prozess der Giralgeldschöpfung bekannt, dieser wird auch in gängigen Lehrbüchern beschrieben. Umso erstaunlicher ist ja, dass bei Analysen, Simulationen und Prognosen trotzdem auf Modelle zurückgegriffen wird, die eine Wirtschaft beschreiben, in der weder Geldschöpfung existiert noch eine Zentralbank, die Leitzinsen festsetzt.

Auch alternative Konzepte, wie sie etwa von der globalisierungskritischen Bewegung attac propagiert werden, leiden darunter. Ein Beispiel sind die hohen Erwartungen, die manche VertreterInnen von attac mit Vermögensteuern verbinden: Reichtum/Vermögen wird ganz offensichtlich als Anhäufung von “Geld” im Sinne liquider Mittel missverstanden. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch großteils um Aktien, Immobilien, Anleihen usw., die – um zu als Steuer abführbaren liquiden Mitteln zu werden – erst in solche transformiert, also verkauft oder als Sicherheit für Kredite verwendet werden müssen.

Dabei kann es zu regelrecht “perversen” Effekten kommen, siehe etwa den Artikel: Die Insel der verarmten Papier-Millionäre (FAZ, 26.7.05)

Ausblendung nicht-monetärer bzw. nicht marktvermittelter Transaktionen und Ressourcen

Die Tragweite dieses Fehlers sollte offensichtlich sein: Alles, was keinen Preis hat und insofern nichts kostet, geht nicht in das “Bruttoinlandsprodukt” und ähnliche Konstrukte ein, die die “Wirtschaft” beschreiben und erfassen sollen. Es wird einfach als “gegeben” vorausgesetzt. Dazu gehört nicht nur der Großteil der (zumeist von Frauen) geleisteten “Reproduktionsarbeit”, sondern in der Regel auch die nicht-menschliche Natur.

Betroffen ist der gesamte Komplex Wirtschaftswachstum und Wohlstand (siehe u.a. ökonomische Indikatoren und meinen Kommentar Wohlbefinden vs. Wirtschaftswachstum).

Mystifizierung und Fehlwahrnehmung der wirtschaftlichen Realität

Dazu zähle ich die Neigung, kollektiven Prozessen und Interaktionen eine eigene Subjektivität zu unterstellen. Beispielsweise wird den Finanzmärkten eine dämonische Wesenhaftigkeit zugeschrieben und gemeint, “sie” würden “uns beherrschen” und müssten nun (per Zauberspruch, Exorzismus, durch den Wunderwuzzi namens Staat, eine Revolution?) gebändigt oder ausgetrieben werden.

Ebenso meine ich damit die Vorstellung, bei dem Geschehen auf Finanzmärkten handle es sich um von der “Realwirtschaft” abgekoppelte Prozesse, die – etwa durch eine Steuer auf Finanztransaktionen – “lahmgelegt” werden sollten.

Oft ist diese Fehlwahrnehmung mit etwas verbunden, was als “Zauberlehrlings-Syndrom” bezeichnet werden könnte: Wie im Gedicht Goethes (1) fühlen sich viele dazu verurteilt, hilflos einem als zerstörerisch empfundenen Prozess zuzusehen, und vergessen dabei, dass wir selbst – Millionen von Zauberlehrlingen – diese Geister gerufen haben: Es handelt sich um unsere eigenen Wünsche, Begehrlichkeiten und Ängste,
die vor unseren Augen ihr (Un)Wesen treiben, und mitnichten um etwas, das problemlos “gestoppt” werden könnte, da es ohnehin vom “realen” Geschehen abgekoppelt ist (siehe Kasten rechts zu Finanzmärkten).

Wir beeinflussen alle – direkt oder indirekt – die Finanzmärkte

1. Es mag wohl sein, dass etwa die meisten GlobalisierungskritikerInnen nicht persönlich auf Aktien-, Devisen- oder Rohstoffmärkten spekulieren, Optionen und Futures inbegriffen. Aber die meisten haben aus privaten Gründen Verträge mit Unternehmen abgeschlossen, die sehr wohl auf diesen Märkten agieren – insbesondere Versicherungsverträge, von der Haushalts- über die Kfz-Haftpflichtversicherung bis zur Lebensversicherung.
2. Ein wachsender Anteil widmet sich im Rahmen der privaten Pensionsvorsorge dem “Fondssparen”, wozu man in Österreich als Selbständiger sogar gezwungen wird. in Ländern wie den USA ist privater Aktienbesitz beinahe unvermeidbar, sofern man/frau nicht zu den untersten Einkommensschichten gehört. Der Pensionsfonds der öffentlich Bediensteten Kaliforniens (CALPERS) ist mit mehr als 207 Mrd. US-Dollar unter Verwaltung (per 31.1.2006) der größte Pensionsfonds der USA und der drittgrößte Investmentfonds der Welt.
3. Und wer ein Haus oder eine Eigentumswohnung per Hypothekarkredit und noch dazu in Yen oder Schweizer Franken finanziert, liefert erhebliche “Verschubmasse” für Finanzmärkte: Bankforderungen aus Hypothekarkrediten werden gebündelt und als Wertpapiere an Börsen gehandelt; die Wechselkurs-Sicherungsgeschäfte der Banken funktionieren nur, weil insbesondere die verfemten spekulativen “Hedge-Fonds” als Gegenpartei dienen.
4. Schließlich sind sogar die Habenichtse für erhebliche Bewegungen auf Finanzmärkten verantwortlich, insofern nämlich Regierungen Schulden machen (müssen), um wenigstens ihren elementarsten sozialpolitischen Verpflichtungen nachzukommen.

Wird auf Basis falscher Vorstellungen Wirtschaftspolitik betrieben (sozusagen in einer “Black Box” herumgefuhrwerkt), wird das “Gesetz” der unbeabsichtigten Nebenwirkungen m.E. wieder unbarmherzig seinen Tribut fordern. Mit nicht-ökonomischen Beispielen vom Wirken dieses Gesetzes habe ich mich etwa in den Artikeln Legalize it? (“Krieg gegen Drogen”) und Der Wille zum Chaos (“Krieg gegen den Terror”) befasst.

Wachstumsoptimismus “a priori”

Interessanterweise haben die meisten VerteidigerInnen und KritikerInnen des Status quo der wirtschaftlichen “Globalisierung” eines gemeinsam: Beide gehen a priori von einem unbegrenzten Wachstumspotenzial unter kapitalistischen Produktionsbedingungen aus.

Der wesentliche Unterschied scheint darin zu bestehen, dass den als “neoliberal” apostrophierten PolitikerInnen und TheoretikerInnen vorgeworfen wird, die famose “Wachstumsmaschine” Kapitalismus in Wirklichkeit zu ruinieren, während es nach Ansicht ihrer KritikerInnen doch beim Drehen an einigen wirtschaftspolitischen Schrauben durchaus möglich wäre, das wunderbare Werkel bis in unabsehbare Zukunft weiter in Gang zu halten.

Das gemeinsame Motto scheint zu sein: “Was nicht sein darf, kann nicht sein.” (Siehe auch meinen Kommentar Gibt es eine – bessere – Alternative zum Kapitalismus?”.)

Unverständnis der kapitalistischen Wirtschaft

Die Wahrnehmung der kapitalistischen Wirtschaft wird von zahlreichen teils hartnäckigen, oft gleichsam zu Glaubensvorstellungen mutierten Irrtümern geplagt. Das Problem dabei: Falsche Analysen führen in der Regel zu falschen Lösungsvorschlägen. Ein Beispiel ist die Vorstellung, der “Wohlstand” der reichen Länder beruhe überwiegend auf der Ausbeutung der armen Länder. Ganz im Gegenteil beruht er jedoch großteils auf der Wertschöpfung im Norden (siehe meinen Kommentar dazu).

Noch weit grundlegender ist ein Missverständnis in Zusammenhang mit der “Ausbeutung” im Kapitalismus, also der Aneigung eines Teils des durch Arbeit geschaffenen Mehrwerts durch das Kapital. Auf dem dazu notwendigen “ungleichen Tausch” (der Lohn entspricht nicht dem “Wert” der Arbeit) beruht offensichtlich die Ablehnung des Kapitalismus aus ethischer Sicht.

Dabei wird m.E. zweierlei außer Acht gelassen: Erstens muss der Mehrwert erst “versilbert” werden (= “Profit”), und damit das geht, muss das notwendige Geld von den Unternehmen vorgeschossen werden. Geschieht das nicht in ausreichendem Umfang, wird’s eng mit den Profiten (siehe geldschöpfung ermöglicht wachstum).

Zweitens zeigen die zahlreichen Genossenschaften und Kooperativen, dass diese Aneignung des versilberten Mehrwerts durch das Kapital keinen ethischen Angriffspunkt mehr bietet, wenn die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit durch die selben Personen repräsentiert sind. Für eine grundlegende Kritik am Kapitalismus greift die moralische Verurteilung der Ausbeutung zu kurz; dazu müssen andere Aspekte ins Treffen geführt werden.

Diese rein moralische Kritik scheint auch der Grund dafür zu sein, dass etwa spontane Reaktionen Betroffener in wirtschaftlichen Krisensituationen als “Keimzelle” nicht-kapitalistischer Wirtschaftsweisen verstanden werden, obwohl an ihnen kaum “Antikapitalistisches” zu erkennen ist.

Ein Beispiel sind etwa die Übernahmen konkursreifer Betriebe durch die Beschäftigten nach dem Kollaps der argentinischen Wirtschaft. Für den grundlegenden Mechanismus (Aneignung des versilberten Mehrwerts durch das Kapital) ist es völlig egal, wem die Produktionsmittel gehören, ob einer Genossenschaft, einer öffentlichen Körperschaft, einer Einzelperson oder hunderttausenden Kleinaktionären. (Zu Argentinien siehe u.a. Talfahrt ohne Ende.)

Damit ist meine Liste bei weitem nicht zu Ende. Weitere Missverständnisse bestehen m.E. in Bezug auf den jeweiligen Einfluss von Globalisierung/Handel und technischem Fortschritt, auf die Konzeption von Staat und Markt/Privatwirtschaft als Gegensatzpaar und damit in Zusammenhang auf die Debatte über mehr oder weniger schuldenfinanzierte Staatsausgaben.

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(1) Wer das Gedicht nicht kennt: Es kann unter anderem hier gelesen werden.