WTO/Sozialstandards: Der Bock als guter Gärtner

[November 1998]

Welche internationale Organisation soll die weltweite Durchsetzung von Arbeiterrechten sichern? Die WTO, meint die Gewerkschaftsbewegung. Bislang scheiterten die Bestrebungen am Mißtrauen der Entwicklungsländer, die die Dominanz der reichen Länder innerhalb der WTO kritisieren.

Editorial zum Thema: Sozialklauseln im Welthandel

Ohne eine Klausel für Arbeiterrechte laufen wir alle Gefahr, zu Bananenrepubliken zu werden”, warnt Bill Jordan, Sekretär des Internationalen Bunds freier Gewerkschaften (IBFG). Solche Horrorszenarien erinnern an die vor allem in den reichen Ländern grassierenden Ängste vor den Folgen der “Globalisierung”: etwa vor einem “Race to the bottom”, einer Angleichung der Sozial- oder Umweltstandards auf niedrigstem Niveau. Kapital und Arbeitsplätze wanderten dorthin, wo die Produktionskosten am niedrigsten sind – vom Norden in den Süden; Aussagen wie “Arbeit wird billig wie Dreck” oder die Rede von der “Schmutzkonkurrenz” geben Befürchtungen Ausdruck, der globale Wettbewerb könnte der sozialen Marktwirtschaft den Garaus machen.

Ins Blickfeld geraten etwa Exportproduktionszonen (EPZ) in Entwicklungsländern, wo heute nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO 27 Millionen Menschen – zumeist Frauen – unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten müssen; Regierungen wie die von Bangladesch und Pakistan, die Gewerkschaften in EPZ verbieten; oder China, dem der verbreitete Einsatz von Zwangsarbeitern in der Exportindustrie vorgeworfen wird. Und selbst wo nationale Bestimmungen Kinderarbeit verbieten, wird ihre Einhaltung nur lax oder überhaupt nicht kontrolliert: Mehr als 15 Millionen Kinder arbeiten in Exportproduktionen, schätzt die Weltbank. Die Entwicklung in der Schiffahrtsbranche, wo sich Reedereien durch “Ausflaggen” den strengeren Regeln der reichen Länder entziehen, ist für Gewerkschaften ein weiteres böses Omen.

Der IBFG, der 206 Gewerkschaften in 141 Ländern und Territorien mit insgesamt 125 Millionen Mitgliedern auf internationaler Ebene vertritt, gehört zu den vehementesten Befürwortern einer per Handelssanktionen durchsetzbaren Sozialklausel. Die Vereinbarung von Mindest-Sozialstandards im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO könnte, so wird suggeriert, einen essentiellen Beitrag dazu leisten, den Deregulierungswettlauf zu bremsen.

Diese zuletzt vor allem von den USA und Frankreich vertretene Forderung hat sich zu einem der kontroversiellsten Themen in den Beziehungen zwischen Norden und Süden entwickelt.
Vor dem skizzierten Hintergrund liegt der Verdacht nahe, es handle sich im wesentlichen um moralisch verbrämten Protektionismus der reichen Länder, etwa in Form von Ausgleichszöllen gegen “Sozialdumping” durch niedrige Löhne oder niedrige Sozialstandards.

Historisch gesehen ist die Verknüpfung von Handel und Sozialstandards nichts Neues – und auch nicht der Einsatz für protektionistische Zwecke. Ende des 19. Jahrhunderts verboten zahlreiche Industrieländer die Einfuhr von Produkten aus Zwangsarbeit, und in den zwanziger Jahren hoben mehrere europäische Länder Zölle auf Produkte aus Ländern mit “schlechteren” Arbeitsbedingungen ein. Ein US-Gesetz von 1930 sah vor, Zölle auf alle Produkte einzuheben, die zu niedrigeren als den US-Lohnkosten produziert wurden.

Bestehende Sozialklauseln im Handelsrecht (Auswahl)

Art. XX (e) des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT. Gestattet seit 1948 Handelsmaßnahmen gegen Produkte aus Gefangenenarbeit. Bisher nicht angewendet.

Nebenabkommen über Arbeit von 1993 (NAALC) zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Mexiko und Kanada. Beruht auf wechselseitiger Anerkennung der nationalen Gesetzgebung. Erfaßt sind neben den Bereichen der sieben ILO-Konventionen auch das Streikrecht, Mindestlöhne, Gesundheitsschutz und Gastarbeiterrechte. Sanktionen sind nur bei Verstößen gegen die letzten drei Standards möglich.

Unilaterale Präferenzsysteme für Entwicklungsländer
# USA: Die Handelspräferenzen für Länder des karibischen Beckens, für Andenländer sowie seit 1984 die des Allgemeinen Präferenzsystems (APS, englisch GSP) für Entwicklungsländer sind an Sozialklauseln gebunden. Die bisherige Praxis wird als unausgewogen kritisiert – “gegnerische” Länder wie Nicaragua, Liberia, und Syrien wurden unter Druck gesetzt, “befreundete” wie Ägypten, Indonesien, und El Salvador blieben verschont.
# EU: Die Handelspräferenzen des APS der Europäischen Union können seit 1995 für Länder suspendiert werden, die Sklaverei oder Zwangsarbeit tolerieren. Zusätzliche Anreize bestehen seit 1998 bei Achtung der Gewerkschaftsrechte und der ILO-Kinderarbeitskonvention. Myanmar (Burma) ist seit 1997 suspendiert.
Die APS/GPS-Sozialklauseln werden durch die Erosion der Präferenzen im Rahmen der Handelsliberalisierung an Wirksamkeit verlieren. Ein Modell für die Zukunft stellen sie daher nicht dar.

Multilaterales Abkommen über Investitionen (MAI) der OECD
In Diskussion: Verbot der Absenkung von Sozialstandards für ausländische Investoren. Bei Integration in die WTO wären Sanktionen in allen von WTO-Abkommen erfaßten Bereichen möglich.

1919 ging der Gedanke, daß die Mißachtung minimaler sozialer Standards in einem Land auch für andere Lände negative Folgen habe, in die Präambel der Satzung der ILO ein. Ursprünglich sah diese Satzung sogar wirtschaftliche Sanktionen zur Durchsetzung der ILO-Übereinkommen vor. Der nie genutzte Artikel wurde jedoch 1946 gestrichen. Was übrig blieb, ist die Möglichkeit, der ILO-Konferenz “Maßnahmen” zu empfehlen, die eine Einhaltung “sicherstellen” könnten – da ein allenfalls betroffenes Land entweder die entsprechende Konvention nicht ratifizieren oder einfach die ILO verlassen kann, gilt die ILO als zwar wertvolle, aber eher zahnlose Organisation.

Auch die 1948 auf der UNO-Konferenz über Handel und Entwicklung beschlossene “Havanna Charta”, das Gründungsdokument der geplanten Internationalen Handelsorganisation ITO, sah eine Verpflichtung vor, “unfaire Arbeitsbedingungen” in Exportproduktionen zu beseitigen.
Da der US-Senat die Ratifikation verweigerte, blieb die ITO eine Totgeburt. An ihre Stelle trat bis zur Gründung der WTO 1994 ein Provisorium, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT, das lediglich die Legitimität von Handelsmaßnahmen gegen Produkte aus Gefangenenarbeit aus der Charta übernahm.

Abgesehen von gescheiterten Initiativen der USA in den fünfziger Jahren verschwand das Thema für geraume Zeit von der internationalen Bildfläche. Als jedoch Japan und andere Entwicklungsländer mit Textil- und Bekleidungsexporten als Konkurrenten auftraten, suchten die Industrieländer im Protektionismus das Heil: Das Abkommen über Baumwolltextilien in der Kennedy-Runde des GATT (1964-67) oder später das nach wie vor geltende Multifaserabkommen MFA waren Ausdruck der damaligen Machtverhältnisse.

Chakravarthi Raghavan, Chefredakteur des South-North Development Monitor (SUNS) merkt sarkastisch an, daß sich niemand bemühte, diese Importbarrieren mit moralischen Argumenten zu begründen.

Als die USA 1979 im GATT vergeblich das Thema niedrigerer Sozial- und Gesundheitsstandards in Exportsektoren aufs Tapet brachten, ging es wiederum nur um die jungen Exportindustrien im Süden. Exporte von Landwirtschaftsprodukten standen nicht im Zentrum, obwohl die Arbeitsbedingungen dort oft schlimmer waren als in der Industrie.

Auch während der Uruguay-Runde (1986 – 1993) scheiterten die USA mit ihrer Forderung, eine GATT-Arbeitsgruppe zum Thema Handel und Sozialstandards einzurichten.

Praktisch nur auf unilateraler Ebene, nämlich in den freiwilligen Zollpräferenzsystemen der USA und der EU für Entwicklungsländer finden sich seit Mitte der achtziger bzw. der neunziger Jahre Sozialklauseln (siehe Kasten), die die Einhaltung grundlegender Sozialstandards zur Voraussetzung für die Gewährung von Handelsvorteilen machen.

Zwar bestätigt die selektive Handhabung der Sozialklausel durch die USA die Bedenken ihrer Kritiker, doch dürfte der drohende Entzug der Präferenzen in einzelnen Fällen tatsächlich den beabsichtigten Zweck erreicht haben.

Analog zu diesen Positiv-Klauseln fordert der IBFG, alle WTO-Mitglieder zur Einhaltung fünf grundlegender “Sozialstandards” auf Basis von sieben in hohem Ausmaß ratifizierten ILO-Konventionen zu verpflichten (siehe Kasten).

Internationale Sozialstandards

Sieben grundlegende Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) werden als Basis für Sozialklauseln vorgeschlagen. Kritiker verweisen auf fehlende Ratifikationen durch bedeutende Länder (Stand September 1998).

  • Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz der Vereinigungsrechte (1948). 122 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, China, Indien, Brasilien, Iran.
  • Übereinkommen 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechts und des Rechtes auf Kollektivverhandlungen (1949). 139 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, Kanada, China, Indien, Mexiko, Iran.
  • Übereinkommen 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit (1930). 146 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, Kanada, China.
  • Übereinkommen 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit (1957). 133 Ratifikationen; nicht dabei u.a. Japan, China, Indien.
  • Übereinkommen 100 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit (1951). 137 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, Pakistan, Südafrika.
  • Übereinkommen 111 über die Beseitigung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf (1958). 130 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, Japan, Großbritannien, China, Nigeria.
  • Übereinkommen 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung (1973). 64 Ratifikationen; nicht dabei u.a. USA, Japan, Österreich, China, Indien, Pakistan, Brasilien, Mexiko, Nigeria.
  • Zweifellos eignet sich eine solche Sozialklausel nicht dazu, die Verlagerung von Industrien in Billiglohnländer zu stoppen. Vielmehr wären die Hauptnutznießer einer solchen Sozialklausel die Entwicklungsländer selbst, wird argumentiert: Gerade sie sind die Opfer skrupelloser Regierungen und Unternehmen in anderen Entwicklungsländern, die sich kurzfristige Kostenvorteile durch die Mißachtung von Arbeiterrechten verschaffen wollen.

    WTO-Mitglieder müßten diese Grundrechte in der gesamten Wirtschaft und nicht nur im meist weniger problematischen Exportsektor einhalten. Um politisch motivierten selektiven Gebrauch oder protektionistischen Mißbrauch auszuschließen, wird ein langwieriges, an die ILO-Prozeduren erinnerendes Verfahren vorgeschlagen: Erst nach einer zweijährigen Vorwarnphase soll der WTO-Rat mit der Frage befaßt werden, ob und welche Handelsmaßnahmen angedroht und nach einem weiteren Jahr bei andauernden Verstößen ergriffen werden sollten.

    Diese “multilaterale Disziplin” würde zwar den politisch motivierten oder protektionistischen Mißbrauch einer Sozialklausel verhindern. Der Pferdefuß dabei: Ihre Effektivität wäre gerade dadurch ernsthaft in Frage gestellt, wie auch Befürworter von Sozialklauseln anmerken. Höchstwahrscheinlich würde es nur in krassen Fällen zur Androhung multilateraler Sanktionen kommen. Andererseits bestünde die Gefahr, daß WTO-Mitglieder eben deswegen unter Berufung auf die Sozialklausel unilaterale Maßnahmen ergreifen – ganz nach dem Muster der USA und ihrer NATO-Verbündeten, die notfalls auch den UN-Sicherheitsrat ignorieren.

    Bei der WTO-Ministerkonferenz 1996 in Singapur erlitt die Idee jedenfalls Schiffbruch. Vor allem Entwicklungsländer wehrten sich kategorisch mit dem Hinweis auf möglichen protektionistischen Mißbrauch durch die reichen Länder.

    Nun ist es gerade die offensichtliche Ineffektivität der vorgeschlagenen Sozialklausel, die Zweifel über die tatsächliche Motivation aufkommen läßt: Es handle sich nur darum, den Fuß in die Tür zu stellen – weitergehende Forderungen wie eine produktivitätsabhängige Erhöhung der Standards seien dann nur eine Frage der Zeit. Sozialstandards, so jedenfalls die WTO-Erklärung in Singapur, sollen alleinige Kompetenz der ILO bleiben. Die Angelegenheit scheint damit vorerst ad acta gelegt und wurde bei der folgenden WTO-Ministerkonferenz im vergangenen Mai in Genf nur am Rande behandelt.

    Die Hauptursache für die Ablehnung selbst einer so eng gefaßten Sozialklausel ist zweifellos im Mißtrauen der Entwicklungsländer gegenüber der WTO zu suchen. Zwar ist die WTO demokratisch verfaßt – ein Land, eine Stimme – sie wird aber de facto von den reichen Ländern kontrolliert. Was dies bedeutet, wissen die Entwicklungsländer aus ihren Erfahrungen mit anderen von reichen Ländern beherrschten Institutionen wie Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Auch würde die Ausweitung der Kompetenzen der WTO auf politische Rechte wie die Vereinigungsfreiheit ihren Status erheblich auf- und den der Vereinten Nationen abwerten.

    Übrigens durchaus im Sinne der Erfinder: “Wir wissen, daß es keine Weltregierung gibt, das ist für uns ein Nachteil”, räumt IBFG-Sekretär Jordan ein – “aber die WTO kommt dem noch am nächsten”. Wobei sich die Frage stellt, warum die WTO nicht auch die Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit per Handelssanktionen durchsetzen können sollte.
    Aus Sicht des Südens geht es in erster Linie darum, die weitere Marginalisierung der ärmeren Länder im internationalen System zu verhindern. Die WTO mit der Durchsetzung von Sozialstandards zu betrauen, erscheint angesichts der teils fatalen sozialen Auswirkungen einer forcierten Liberalisierung als Versuch, den Bock zum Gärtner zu machen. Zwar signalisierte der südafrikanische Präsident Nelson Mandela in Genf Gesprächsbereitschaft, gab den Ball aber an den Norden zurück:

    Zuerst müßte Vertrauen in das System geschaffen werden – nur dann würden alle Entwicklungsländer bereit sein, sich mit Themen wie Arbeiterrechten und Umwelt zu befassen. Mit anderen Worten: Machen wir die WTO zu einer Organisation, die auch die Interessen der ärmeren Länder gewährleistet. Dann reden wir über Sozialstandards.

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert