Aids-Medikamente: Nationale Notstände

[Mai 2001]
Siehe auch Ein Stein kommt ins Rollen sowie die Inhalte unter gesundheit und aids/hiv

Die jüngsten Preissenkungen für AIDS-Medikamente sind vor allem Angeboten von Generika-Herstellern zu verdanken. Zwangslizenzierungen und Einschränkungen des Patentschutzes könnten diesen Prozess beschleunigen, sagen Hilfsorganisationen

Dass es für ein armes Land egal wäre, “ob AIDS-Medikamente 5.000 US-Dollar oder bloß 500 US-Dollar” kosten, mag zynisch klingen – besonders aus dem Mund eines Firmenchefs aus der Pharmaindustrie. Stimmen dürfte es trotzdem. Denn trotz der zuletzt drastisch gesunkenen Preise (siehe Tabelle) steht eines fest: Ohne massive finanzielle Hilfe der reichen Länder wird der Großteil der weltweit 36 Millionen Menschen, die das AIDS-Virus in sich tragen – rund 26 Millionen allein in Afrika – auch weiterhin keinen Zugang zu anti-retroviralen Kombinationstherapien haben, die den Ausbruch der Krankheit zum Teil für lange Jahre hinauszögern können. Selbst zum derzeit niedrigsten Preis übersteigen die Behandlungskosten die Möglichkeiten der meisten afrikanischen Länder, die mit Gesundheitsbudgets von weit weniger als 20 US-Dollar pro Kopf auskommen müssen.

Kosten anti-retroviraler Dreifachkombinationstherapien US-Dollar pro Person und Jahr
Reiche Länder 10.000 – 20.000
Afrika/Patentinhaber 885 – 1.330
Entwicklungsländer/CIPLA:
a) Großabnehmer
b) Regierungen
c) Ärzte ohne Grenzen
1.200
600
350
Pro-Kopf-Gesundheitsbudgets in Afrika südlich der Sahara 5 – 15


Quellen: MSF, CIPLA

Allerdings hat der Zuschussbedarf nun realistischere Dimensionen erreicht. Wieviel Mittel bei Selbstkostenpreisen nötig wären, um etwa drei Millionen HIV-positiven AfrikanerInnen eine Behandlung zu ermöglichen, wird in einem im April veröffentlichten Vorschlag der US-Universität Harvard zu beziffern versucht. Das Ergebnis: Bis zu sieben Milliarden US-Dollar jährlich in den nächsten fünf Jahren – sechs Milliarden davon von den reichen Ländern. Inbegriffen wären Prävention, klinische Tests und epidemiologische Studien zur Untersuchung der Wirksamkeit verschiedener Behandlungsmethoden. Der Vorschlag soll bis zur AIDS-Sondersitzung der UN-Generalversammlung im Juni konkretisiert werden – und wird hoffentlich mit entsprechenden Finanzierungszusagen beantwortet.

Neben öffentlichem Druck war es zweifellos der Markteintritt von Pharmafirmen aus Indien, in erster Linie von Cipla Pharmaceuticals, dem die jüngste Dynamisierung zu verdanken ist. Ihr Angebot von Anfang Februar – eine Dreifachkombinationstherapie um 350 US-Dollar jährlich, exklusiv an Ärzte ohne Grenzen (MSF), um 600 Dollar an alle interessierten Regierungen und um 1.200 für private Großabnehmer – lag weit unter den früheren Preisen. Was die Pharmakonzerne besonders erzürnte: Cipla ist ein “Produktpirat”, der die auf westlichen Patenten beruhenden Medikamente bloß nachahmt – in Indien, das laut dem WTO-Übereinkommen über geistige Eigentumsrechte (TRIPS) erst ab 2005 Produktpatente einführen muss, durchaus erlaubt.

Seit dem Cipla-Angebot jagte eine Preissenkung der westlichen Pharmabranche die andere, Medikamente, HIV-Tests und technische Hilfe wurden gratis angeboten. Selbst die UNAIDS-Initiative (“Accelerating Access Endeavour”) von Mai 2000, die in Kooperation mit westlichen Pharmaunternehmen rascheren Zugang zu anti-retroviralen Medikamenten anstrebt, kam in Schwung – Vereinbarungen gibt es mittlerweile mit Kamerun, Mali, Senegal, Sambia, Ruanda, Cote d’Ivoire und Uganda. Ebenso konnte auch die brasilianische Regierung mit ihrer Drohung, gegebenenfalls Patente zu ignorieren und die Medikamente selbst herzustellen, Ende März den US-Konzern Merck zu Preisnachlässen bewegen – der nächste Kandidat ist übrigens ein AIDS-Medikament von Roche Holding. Es war übrigens auch Brasilien, das mit der Entwicklung einer eigenen Generika-Industrie für im Inland nicht geschützte AIDS-Medikamente wesentliche Preissenkungen bei Grundstoffen und damit den Markteintritt anderer Generika-Hersteller ermöglichte.

Am 19. April schließlich zogen 39 Pharmafirmen ihre Verfassungsbeschwerde gegen ein südafrikanisches Gesetz von 1997 zurück, das sogenannte “Parallelimporte” ermöglichen sollte – Einfuhren patentierter Medikamente, die mit Zustimmung des Patentinhabers anderswo billiger verkauft werden als im Inland, eine völlig TRIPS-konforme Praxis. Einzige Konzession der Regierung: Sie wird die Pharmafirmen bei der Umsetzung des Gesetzes konsultieren. Der weltweit begrüßte Ausgang des Verfahrens wurde insbesondere von AIDS- und GesundheitsaktivistInnen als “Signal an andere Entwicklungsländer” gefeiert, sich nicht von mächtigen Unternehmen einschüchtern zu lassen.

Sicherlich eignen sich die Pharmariesen ausgezeichnet als Sündenbock. Ihr effektives Lobbying war stets für die Bereitschaft insbesondere der US-Regierung verantwortlich, unbotmäßige Länder ungeachtet der Einhaltung internationalen Rechts etwa durch Androhung von Handelssanktionen einzuschüchtern, oft mit dem Segen der Europäischen Union. Um ihre Profite in Afrika, wo sie bloß ein Prozent ihrer Umsätze erzielen, ging es ihnen bei der Klage in Südafrika aber wohl nicht. Was sie befürchteten, waren die möglichen Effekte auf die Hochpreismärkte in den reichen Ländern, auf die sie zur Refinanzierung ihrer Forschungs- und Entwickungsausgaben angewiesen sind. Diskontangebote an arme Länder vom Patentinhaber selbst im Rahmen einer marktspezifischen Preisgestaltung (“Differential pricing”) sind nur realistisch, wenn verhindert werden kann, dass die betreffenden Medikamente etwa über Parallelimporte anderswo landen. Dass Großkunden im Norden plötzlich das bei Nachlässen bis zu 99 Prozent bestehende gewaltige Einsparungspotential entdecken und ihre Marktmacht ausspielen, ist ein weiteres Risiko.

Der Überschwang in Pretoria könnte aber bald Enttäuschung Platz machen. Die Regierung plant derzeit weder Generika-Importe noch deren Herstellung, und ein Programm zur breiten Versorgung der etwa 4,7 Millionen HIV-positiven SüdafrikanerInnen bleibt Zukunftsmusik. Immerhin aber könnten Importe von billigeren AIDS-Medikamenten durch private Versicherungen einer kleineren Gruppe von AIDS-Kranken ermöglichen, ihre Behandlung zu finanzieren.

Für Organisationen wie MSF oder Oxfam geht das verständlicherweise viel zu langsam. Ihre Devise: Möglichst niedrige Preise so schnell wie möglich, und zwar ohne langwierige Verhandlungen mit Patentinhabern. Da sich dies am besten durch Wettbewerb erzielen lässt, sollten arme Länder generell Zwangslizenzen an Generika-Hersteller erteilen sowie Generika importieren dürfen, die ohne Zustimmung des Patentinhabers hergestellt wurden. MSF hofft, dass der Preis von Dreifachkombinationstherapien dadurch auf nur mehr 200 US-Dollar sinken könnte.

Ohne Änderungen der TRIPS-Bestimmungen wird das kaum funktionieren. Zwar kann kein Land wegen Parallelimporten vor der WTO belangt werden, und auch alles übrige ist theoretisch etwa bei “nationalen Notständen” gestattet, doch unterliegt es verfahrensrechtlichen Bestimmungen, die von Anwälten der Patentinhaber ausgenutzt werden können. Oxfam fordert daher etwa die Umkehrung der Beweislast: Patentinhaber sollten beweisen müssen, dass kein nationaler Notstand vorliegt. Ein schlagendes Argument gegen TRIPS scheint jedenfalls die positive Rolle der Generika-Hersteller zu sein. Denn hätte etwa Brasilien auch die älteren Patente respektieren müssen, wäre der Aufbau der eigenen Industrie und damit die Gratisbehandlung aller AIDS-Kranken des Landes, ein Unikum im Süden, wohl an Klagen westlicher Pharmakonzerne oder an den Kosten gescheitert.

Zwar hat eine Gruppe afrikanischer Länder bereits eine Sondersitzung des Rats für TRIPS im Juni einberufen, die sich mit den Effekten des internationalen Patentrechts auf die Gesundheit befassen soll. Vom Cipla-Angebot hat aber bisher keine afrikanische Regierung Gebrauch gemacht. Die Regierung in Botswana, dem mit 17 Prozent HIV-Positiven schwerstbetroffenen Land, kündigte etwa im März an, bis Jahresende allen Betroffenen eine kostenlose anti-retrovirale Behandlung anzubieten. Der Cipla-Preis, so Festus Mogae, Präsident von Botswana, wäre zwar eher im Bereich des Leistbaren. Er hoffe aber, die großen Pharmafirmen von einer weiteren Senkung ihrer Preise überzeugen zu können – “Wir glauben nicht an Konfrontation, sondern an Konsultation”. Sprich: Niemand will es sich mit der Branche verscherzen.

Sicher liegt den Firmen einiges daran, Cipla und andere Generika-Hersteller nicht in den Markt zu lassen. Ob das gelingt, wird wohl auch von der Position der UNO abhängen. Bisher zeigten etwa das UN-Entwicklungsprogramm und auch WHO-Generalsekretärin Gro Harlem Brundtland, die das Cipla-Angebot begrüßte, wenig Berührungsängste. Doch nach einem Treffen mit einigen Großen der Branche Anfang April bekräftigte UN-Generalsekretär Kofi Annan nachdrücklich die Unterstützung der Vereinten Nationen für Patentrechte und TRIPS. Denkbar wäre, dass die UNO als Gegenleistung für die angebotenen Preissenkungen der Industrie und ihre Kooperation mit UN-Organisationen zumindest auf eine offene Zusammenarbeit mit “Produktpiraten” wie Cipla verzichtet. Eine “Überholspur” in Richtung weitere Preissenkungen wäre damit eher unwahrscheinlich.

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