Realitätstunnel / PEAR

In meinem kurzen Text zur Astrologie habe ich den Begriff “Realitätstunnel” verwendet, den ich von Robert Anton Wilson (Link zur Website) übernommen habe.

Unter dem Begriff Realitätstunnel verstehe ich alle möglichen Spielarten einer von zumeist unbewussten Prozessen bewirkten selektiven Realitätswahrnehmung bzw. Fehlkonstruktion der Realität – also in beide Richtungen: Es wird etwas nicht wahrgenommen bzw. etwas gesehen, was nicht “da” ist.

(Hier drängt sich natürlich sofort die Frage auf, inwieweit die “objektive” Wirklichkeit überhaupt erkennbar ist. Nur soviel: Ich neige zur Position von Humberto Maturana, verstehe seine Position aber nicht als Radikalen Konstruktivismus).

Wie auch immer: Das Phänomen geht aus meiner Sicht weit über die bloßen Folgen selektiver Aufmerksamkeit hinaus, wie sie aus dem bekannten Gorilla-Experiment ersichtlich werden (siehe the invisible gorilla). Es umfasst genauso die von der Psychoanalyse als Projektion und Übertragung bezeichneten Vorgänge wie u.a. auch ideologische oder wissenschaftliche Aprioris.

Sinnvoll ist aus meiner Sicht, diese Phänomene nach ihrer Entstehung zumindest in “primäre” und “sekundäre” zu unterscheiden.

Primäre Realitätstunnel wären solche, die in den ersten Jahren der Kindheit und m.E. auch schon im Embryonalstadium entstehen (die Konstruktion der “Außenwelt” durch das Nervensystem, d.h. die Entwicklung interner Repräsentanzen, muss einfach schon lange vor der Geburt beginnen). Diese operieren in der Regel auf unbewusster, in erster Linie emotionaler Ebene, sind daher schwer “wahrzunehmen”, allerdings umso wirksamer und “mächtiger”.

Sekundäre Realitätstunnel entstehen zeitlich danach, setzen unvermeidlich auf den “primären” auf (und sind manchmal beinahe untrennbar mit den primären “verzahnt”) und beinhalten kognitive Elemente. Je stärker sekundäre mit primären Realitätstunnels verbunden sind, desto weniger sind sie – trotz ihrer kognitiven Elemente – einer Relativierung auf rational-kognitiver Ebene zugänglich. Daher sind auch hartnäckige Wahrnehmungs- und Denkblockaden ein derart verbreitetes Phänomen.

Grundsätzlich gehe ich allerdings davon aus, dass alle diese Prägungen oder Programmierungen bewusst werden und wenn schon nicht “gelöscht”, so doch durch andere Programmierungen relativiert, “entkräftet” oder ersetzt werden können. Insbesondere die Adoleszenz scheint eine Phase zu sein, in der “zuvor gebildete psychische Strukturen verflüssigt” werden können (Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit).

Eine etwas elaboriertere Beschreibung des Zustandekommens und der Aufrechterhaltung solcher Realitätstunnel, in diesem Fall “sekundärer”, habe ich im Text Sensors, Filters and the Source of Reality (pdf, 303 kB) von Robert G. Jahn und Brenda J. Dunne gefunden, zwei leitenden Mitgliedern des PEAR-Forschungsteams; erschienen im Journal of Scientific Exploration, Vol. 18, No. 4, pp. 547-570, 2004.

Bei dem Text selbst handelt es sich um eine theoretische Spekulation zur Frage, wie Bewusstsein-Materie-Interaktionen erklärt werden könnten.

Hier ein Auszug von S.12 des Textes (Hervorhebungen im Text sind von mir; nachstehend bzw. kurz im Kasten rechts gibt es eine von mir erstellte vorläufige deutsche Version des Auszugs):

(…)
Under ordinary circumstances, however, we usually are so preoccupied with translating our experiences into objective descriptions that we fail to acknowledge at a conscious level the fundamentally subjective nature of those experiences and the accessibility of alternative representations of them. Rather, such alternatives are assigned relative probabilities via an unconscious mental algorithm that incorporates such factors as past experience, expectation, desire, or fear, along with the immediate purpose or intention.

“Da diese unbewussten Berechnungen zu der Interpretation konvergieren, die innerhalb der vorherrschenden Perspektive am wahrscheinlichsten scheint, wird damit ein passender Filter etabliert. In der Regel wird der Prozess, mit dem einer Erfahrung eine Bedeutung zugeschrieben wird, erst ab diesem Punkt bewusst wahrgenommen.”

As these unconscious calculations converge on the interpretation that seems most likely within the prevailing perspective, an appropriate filter is thereby imposed. Typically, it is only at this point that the attribution of experiential meaning shifts to a conscious level.

Among the many unconscious factors that contribute to such mental sorting, the prevailing values of our culture play powerful, albeit subtle, roles. The primary objectives of most socialization and educational processes are the encouragement of individual beliefs and behavior that are consistent with the values and purposes of the collective, so that our personal worldviews align with the perspectives of the particular socio-cultural milieux, peer groups, or professional hierarchies in which we are immersed. Each of these dispenses its own conceptual vocabulary and priorities to bias the weighting factors in our unconscious mental calculations toward those representations of experience that are most consistent with the established beliefs and goals of that system, thereby reinforcing the coherence of its collective structure.

Any “thinking outside the box” undermines the system’s control over individual experience and action and is discouraged via stern social sanctions of rejection or exclusion from group membership. For humans, as well as for other social animals, such treatment is usually sufficiently painful to enforce conformity to the “appropriate” information processing strategies and consequent behavior. Eventually, these constraints become so internalized and automated that most alternative perspectives, and their associated reactions, are not even recognized. In extreme cases, they can engender a variety of physical and emotional pathologies, including neuroses, psychoses, or muscular armoring(14) that can further limit or distort responses to stimuli. Given such cultural obedience training, the deployment of other interpretations, i.e., other consciousness filters, requires a strong act of will, plus an acceptance of the psychological consequences of deviating from the security of the collective belief system. (…)

Vorläufige deutsche Version des obigen Auszugs

(…) Unter gewöhnlichen Umständen sind wir in der Regel jedoch so damit beschäftigt, unsere Erfahrungen in objektive Beschreibungen zu übersetzen, dass uns die grundsätzlich subjektive Natur dieser Erfahrungen sowie die Verfügbarkeit alternativer Repräsentationen derselben nicht bewusst werden. Solchen Alternativen werden über einen unbewussten mentalen Algorithmus, der gleichzeitig mit dem unmittelbaren Zweck oder der unmittelbaren Absicht auch Faktoren wie die bisherigen Erfahrungen, Erwartungen, Wünsche oder Befürchtungen integriert, relative Wahrscheinlichkeiten zugeordnet. Da diese unbewussten Berechnungen zu der Interpretation konvergieren, die innerhalb der vorherrschenden Perspektive am wahrscheinlichsten scheint, wird damit ein passender Filter etabliert. In der Regel wird der Prozess, mit dem einer Erfahrung eine Bedeutung zugeschrieben wird, erst ab diesem Punkt bewusst wahrgenommen.

Unter den vielen unbewussten Faktoren, die zu diesem mentalen Sortieren beitragen, spielen die vorherrschenden Werte unserer Kultur mächtige, wenn auch subtile Rollen. Das vorrangige Ziel der meisten Sozialisierungs- und Erziehungsprozesse ist die Förderung individueller Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen, die mit den Werten und Zwecken des Kollektivs übereinstimmen, sodass unsere persönlichen Weltbilder den Perspektiven der jeweiligen soziokulturellen Milieus, Peer Groups oder Berufshierarchien entsprechen, denen wir angehören. Jede einzelne davon bringt ihr eigenes begriffliches Vokabular und ihre eigenen Prioritäten hervor, um die Gewichtungsfaktoren im Rahmen unserer unbewussten mentalen Berechnungen zugunsten jener Repräsentationen der Erfahrung zu beeinflussen, die am ehesten mit den etablierten Glaubensvorstellungen und Zielen des jeweiligen Systems übereinstimmen, womit sie die Kohärenz ihrer kollektiven Struktur verstärken.

Jedes “Querdenken” untergräbt die Kontrolle des Systems über die individuellen Erfahrungen und Verhaltensweisen und wird mittels strenger sozialer Sanktionen wie einer Zurückweisung oder eines Ausschlusses aus der Gruppe bekämpft. Für Menschen genauso wie für andere in Gesellschaft lebenden Tiere ist eine solche Behandlung in der Regel schmerzhaft genug, um die Konformität mit den “richtigen” Strategien der Informationsverarbeitung und den entsprechenden Verhaltensweisen durchzusetzen. Schließlich werden diese Zwänge dermaßen internalisiert und automatisiert, dass die meisten alternativen Perspektiven sowie die dazugehörigen Reaktionen nicht einmal mehr wahrgenommen werden. In Extremfällen können sie zu einer Bandbreite physischer und emotionaler Krankheitsbilder inklusive Neurosen, Psychosen oder Muskelpanzerungen führen, die Reaktionen auf Stimuli weiter beschränken oder verzerren können. Angesichts eines solchen kulturellen Gehorsamstrainings erfordert die Anwendung anderer Interpretationen, d.h. anderer Bewusstseinsfilter, einen starken Willen plus die Akzeptanz der psychologischen Folgen einer Abweichung von der Sicherheit des kollektiven Glaubenssystems. (…)