Fliegende Gänse im Gegenwind

[Februar 1998]

Die schwere Finanzkrise der südostasiatischen Länder hat neuerlich Anlaß gegeben, ihr Entwicklungsmodell in Frage zu stellen.

Rasches Wachstum und die allgemeine Steigerung des Lebensstandards, so die bisherige Kritik, wurden mit einem Raubbau an natürlichen Ressourcen und zunehmender Ungleichheit erkauft. Letzeres wurde zuletzt auch von der Weltbank bestätigt. Nun scheint es auch mit den hohen Wachstumsraten vorbei zu sein. Ist das zugrundeliegende Modell damit gescheitert?

Die exportorientierte Industrialisierung der kleinen Tiger wird auf ein Modell zurückgeführt, das ursprünglich in den 30er Jahren in Japan konzipiert wurde: das Paradigma der “fliegenden Gänse”. Dabei übernimmt ein Land die Führung, beginnt mit arbeitsintensiven Produktionen wie der Textilindustrie und klettert die technologische Leiter hoch. Die nachgeordneten Länder übernehmen jeweils jene Industrien, die sich im führenden Land als nicht mehr rentabel erweisen. Wachstum und die folgende Schrumpfung jeder Branche läßt sich in Form von umgekehrten Vs darstellen – ähnlich einer Gruppe fliegender Gänse. Japan hätte demnach die Rolle der technologischen “Leitgans”, während vor allem die USA als jener Markt dienen, der die Exporte aufzunehmen hat.

Dieses Modell impliziert eine wesentliche Rolle des Staates im Entwicklungsprozeß, wie es in Japan und etwa auch in Südkorea und Taiwan der Fall war. Die Industrialisierung der kleinen Tiger erfolgte jedoch im wesentlichen durch japanische und US-Konzerne wie Matsushita, Intel oder Hewlett-Packard, die sich die Region als eine Art verlängerter Werkbank aussuchten. Daraus folgen Schwächen, etwa die schmale Exportbasis. Die Region stützt sich vor allem auf die Elektronik- und Textilindustrie und war daher verwundbar, als die Preise bei Halbleitern um bis zu 80% verfielen. Laut Toru Shinotsuka von der japanischen Entwicklungsagentur OECF krankt die Exportindustrie außerdem an einer mangelnden Integration in die lokale Wirtschaft, es fehlt etwa an Investitionen in eine einheimische Zulieferindustrie. Dadurch müssen wesentliche Komponenten importiert werden, die tatsächliche Wertschöpfung im eigenen Land bleibt gering. Dazu kommen fehlende Investitionen in die Infrastruktur und in das Humankapital.

Zwar stehen den kleinen Tigern aufgrund der fortschreitenden Handelsliberalisierung nicht mehr jene Möglichkeiten zum Schutz von jungen Industriezweigen zur Verfügung, wie es in Südkorea oder Taiwan der Fall war. Die angeführten Mängel scheinen aber auch unter den aktuellen Rahmenbedingungen behebbar zu sein. Die Abhängigkeit von der Aufnahmebereitschaft der Märkte in den USA und Europa bleibt allerdings bestehen. Daran wird sich auch entscheiden, ob es die kleinen Tiger schaffen, sich rasch aus der jetzigen Krise “herauszuexportieren” und gegen wachsende Konkurrenz vor allem aus China zu bestehen. Andernfalls wäre das Modell tatsächlich am Ende.

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