Markt, Staat, Gesellschaft: Ein Dreieck

Heute reduziert sich die wirtschaftspolitische Debatte oft auf das Gegensatzpaar Markt und Staat. Bei Beidem handelt es sich jedoch um Institutionen eines ungenannten Dritten, nämlich der menschlichen Gesellschaft.

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Es handelt sich hier nur um erste Bruchstücke …

Wird eine Gesellschaft als dicht gespanntes Netz formeller und informeller Verpflichtungen zwischen ihren Mitgliedern betrachtet, umfasst die “Ökonomie” im engeren Sinne den in Geld ausgedrückten Teil dieser Rechte und Pflichten. Ein solcher ökonomischer Bereich kann sich aber nur auf Basis bereits gegebener, nicht-ökonomischer Rechtsverhältnisse herausbilden.

Was heute fälschlich oft als Gegensatz von “Markt” und “Staat” diskutiert wird, bezieht sich auf die Sorge, der ökonomische Bereich könnte sich die “Gesellschaft” jenseits des Markts nicht nur unterwerfen, sondern sie de facto eliminieren. Damit würde die Ökonomie aber “den Ast absägen, auf dem sie sitzt”. Mit den Worten von Karl Polanyi: “Eine von der politischen Sphäre getrennte Marktwirtschaft ist nicht möglich, dennoch war eine solche Konstruktion die Grundlage der klassischen Nationalökonomie seit David Ricardo (…).” (The Great Transformation, Suhrkamp 1990, 2. Auflage, S. 265)

Zweifellos ist mit der Entwicklung des Kapitalismus die Möglichkeit einer “Entbettung” der Ökonomie entstanden, was Karl Polanyi als “Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Markts” beschreibt (The Great Transformation, S.88/89).

Dieses Risiko schien mit der Entwicklung einer “sozialen Marktwirtschaft” nach dem Zweiten Weltkrieg, mit hohen Staatsquoten, umfangreichen Systemen der sozialen Absicherung etc. v.a. in Westeuropa wenn schon nicht beseitigt, aber doch relativ gering zu sein. Das Aufleben des wirtschaftlichen (aber nicht nur!) Liberalismus (als Ideologie) seit Ende der 1970er Jahre (u.a. “Thatcher-Revolution”), in der Folge zumeist als “Neoliberalismus” bezeichnet, hat die “Urängste” vor einer derartigen Selbstzerstörung der Gesellschaft durch ein Übermaß marktförmiger Steuerungen und Mechanismen wieder zu einem wichtigen Motiv gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Handelns werden lassen.

Die Wahrnehmung dieser Gefahr darf aber nicht dazu führen, einen Großteil der bisherigen Menschheitsgeschichte außer Acht zu lassen. In dieser war nämlich nicht ein entfesselter “Markt”, sondern stets der Staat in seinen unterschiedlichen Ausformungen der gefährlichste Gegner der menschlichen Gesellschaft – lange vor seiner Funktionalisierung im Interesse einer neuen herrschenden Klasse, der “Bourgeoisie” im Marx’schen Sinne.

Dies gilt m.E. aber auch für die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas im Machtbereich des nationalsozialistischen Staates, die Verbrechen des Stalinismus, der Kulturrevolution in China oder der Vernichtung eines Großteils der armenischen Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Türkei (ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität).

Daran erinnert die bekannte Formulierung von Franz Werfel 1933 in seinem Roman “Die 40 Tage des Musa Dagh”: “Den Armeniern winkte kein Schutz, keine Hilfe, keine Hoffnung. Sie waren keinem Feinde in die Hände gefallen, der aus Gründen der Gegenseitigkeit das Völkerrecht achten musste. Sie waren einem weit schrecklicheren, einem ganz ungebundenen Feind in die Hände gefallen: dem eigenen Staat”.

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