Neoliberale Ideologie unter Beschuss

[Juni 1998]

Forcierte Liberalisierung der Finanzmärkte? Keine wissenschaftliche Basis, sagt der Chefökonom der Weltbank. Strukturelle Anpassung in Afrika? Laut Jeffrey Sachs wahrscheinlich die falsche Priorität.

In der wirklichen Welt sitzt die neoliberale Wirtschaftspolitik fest im Sattel. Unter Ökonomen sieht die Sache anders aus – auch für Joseph Stiglitz, den Chefökonomen der Weltbank. Seit geraumer Zeit attackiert Stiglitz eine heilige Kuh des Neoliberalismus nach der anderen: Makroökonomische Stabilisierung etwa sollte an ihren Folgen auf Wachstum und Beschäftigung gemessen werden, Haushaltsdefizite seien akzeptabel, wenn sich die öffentlichen Investitionen rentieren; Inflationsraten bis 40% kein Übel, Privatisierungen oft ökonomisch ineffizient. Die diesjährige zehnte Weltbankkonferenz über Entwicklungspolitik in Washington im April nutzte Stiglitz zu einem Angriff auf ein weiteres Dogma: die Liberalisierung der Finanzmärkte.

Das ist kein Zufall: Am Höhepunkt der Finanzkrise in Ostasien zwangen die USA die Weltbank, 10 Mrd. US-Dollar zum Kreditpaket für Südkorea beizutragen, obwohl viele Weltbankbeamte den Konditionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) absolut nichts abgewinnen konnten, wie der britische Economist berichtete. Warum, erklärte Stiglitz folgendermaßen: Erstens gebe es keine wissenschaftliche Basis für die "ideologische Position", daß die Liberalisierung der Finanzmärkte ein Segen sei. Zweitens erhöhe diese Liberalisierung nachweisbar das Risiko systemischer Krisen in Entwicklungsländern – mit schwerwiegenden Folgen auf ihre Wachstumsaussichten. Und außerdem ließen jüngste Studien vermuten, daß eine Liberalisierung überhaupt nicht mit stärkerem Wachstum korreliere.

Auch für die vom IWF den asiatischen Ländern verordnete Hochzinspolitik gebe es "keine wissenschaftliche Begründung", betonte Stiglitz. Sie führe höchstwahrscheinlich zu noch höheren Verlusten an wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand. Und wie könne das Vertrauen der Finanzmärkte wiederhergestellt werden, wenn ein Land in die Rezession stürzt und es zu politischen und sozialen Unruhen kommt?

Den folgenden Lehren aus der Asienkrise stimmte sogar Stanley Fischer zu, der stellvertretende Direktor des IWF: Eine Liberalisierung sollte erst erfolgen, wenn der inländische Finanzsektor gestärkt ist und effiziente staatliche Regulierungen existieren, und daher nur schrittweise und vorsichtig. Ebenso nötig sind wahrscheinlich Maßnahmen zur Begrenzung der kurzfristigen Nettoverschuldung des Privatsektors im Ausland, eine der Ursachen der Ostasienkrise. Sprich: Mechanismen zur Begrenzung des Zuflusses von Kapital wie in Chile, wo 30% eines privaten Fremdwährungskredits für ein Jahr zinslos bei der Zentralbank deponiert werden müssen.

Möglicherweise fatal daneben ist auch die bisherige Entwicklungspolitik der internationalen Finanzinstitutionen in Afrika. Dies legen Forschungsergebnisse nahe, die der Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs auf der Konferenz präsentierte. Zwischen 1965 und 1990 wuchsen die Wirtschaften in Afrika südlich der Sahara um jährlich vier Prozent langsamer als in Ostasien. Doch zumindest zwei Prozent dieses Unterschieds lassen sich durch ungünstige geographische und klimatische Voraussetzungen erklären, mehr als durch Faktoren wie Investitionsquoten, Offenheit der Wirtschaft oder Qualität der öffentlichen Institutionen. Die ungünstigen Faktoren sind etwa schlechte Bodenqualität, ungünstiges Klima, tropische Krankheiten, oder eine hohe Bevölkerungskonzentration im Landesinneren an nicht navigierbaren Flüssen.

Stimmt das, so Sachs, wäre die Priorität für wirtschaftspolitische Reformen nicht gerechtfertigt. Effiziente Maßnahmen gegen Malaria wären dann eher geeignet, das wirtschaftliche Umfeld zu verbessern. Dies würde zudem Anreize für eine wachstumsfördernde Regierungspolitik schaffen, die unter Bedingungen niedriger Produktivität und langsamen Wachstums nicht existierten. Allerdings ist derzeit die Forschung über tropische Landwirtschaft unterfinanziert, und was die tropischen Krankheiten betrifft, sei die Lage "sogar noch verzweifelter", wie Sachs konstatiert.

Die Politikberatung auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, sei schwierig, aber unbedingt anzustreben, betonte Stiglitz – nicht zuletzt aufgrund der "Narben", die die Kolonialgeschichte hinterlassen hätte. Frühere Bemühungen um Marktzugang seien zwar weniger subtil, aber mit der selben moralischen Autorität durchgesetzt worden, "selbst wenn es um zutiefst unmoralische Zwecke ging wie etwa die Öffnung des chinesischen Markts für den Drogenhandel in den Opiumkriegen". Gut gebrüllt, Löwe. Fehlt noch, daß sich die Politik der Weltbank und des IWF entsprechend ändert. Doch über die entscheidet, wer das Geld aufstellt – nämlich die Industrieländer. Und ökonomische Vernunft ist da nicht immer das Maß aller Dinge.

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