Ludwik Fleck, who?

[26.2.2005]

Wissenschaftliche Gemeinschaften neigen aufgrund ihrer soziologischen Eigenheiten dazu, einen kollektiven Glauben auch angesichts widersprechender Tatsachen aufrecht zu erhalten.

Das ist eine der Schlussfolgerungen aus Ludwik Flecks ursprünglich 1935 erschienenem Werk “Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache”. Es wurde 1980 vom Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (stw 312) neu veröffentlicht (mit einer Einführung von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle).

Ludwik Fleck (1896-1961) nicht zu kennen ist keine Schande. Ich weiß auch erst seit ca. zwei Jahren, dass es diesen polnischen Mediziner und Wissenschaftssoziologen überhaupt gegeben hat. Immerhin hat der ORF Hörfunk am 29. Dezember 2004 Ludwik Fleck eine eigene Sendung (“Dimensionen”) gewidmet, die mich allerdings etwas enttäuscht hat: Vielleicht überschätze ich ihn, aber ich finde, dass der Tragweite seiner Ausführungen nicht gebührend Rechnung getragen wurde.

Info 1.12.2008: Der GNT-Verlag hat den Text offenbar im Herbst 2008 aus dem Web entfernt.

Bekannt wurde Fleck erst nach seinem Tod, nachdem Thomas Kuhn ihn im Vorwort zu seinem Werk “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” (1962) erwähnt hatte. Mit dem Einfluss Ludwik Flecks auf Thomas Kuhn befasst sich übrigens der Essay Ludwik Fleck – Zur Wirkung eines Wirkungslosen von Stefan Winnecke.

Fleck zu lesen war für mich faszinierend, eine erhellende Erfahrung. Wie vielleicht die meisten Menschen, die sich zwar kritisch mit Sozialwissenschaften auseinandersetzen, aber von Naturwissenschaften wenig Ahnung haben, ging ich von der folgenden Annahme aus: Im Vergleich zu den von weltanschaulichen Voraussetzungen, politischen Interessen und der “Natur” ihres Forschungsgegenstands etc. zwangsläufig “verunreinigten” Sozialwissenschaften sind die Naturwissenschaften als eine gesellschaftliche Veranstaltung zu betrachten, deren Ergebnisse in wohltuender Weise problemlos als “Tatsachen” akzeptiert werden können – auch wenn die Auswahl ihrer Forschungsgegenstände von ökonomischen und politischen Interessen bestimmt ist.

Dem scheint aber keineswegs so zu sein. Genauso wie sich ein kollektiver Tunnelblick in offensichtlich falschen Modellannahmen der neoklassischen Ökonomie niederschlägt (z.B. “alle Märkte werden stets geräumt”), existieren ähnliche Phänomene auch in naturwissenschaftlichen “Denkkollektiven”, wie sie Fleck nennt – und zwar geradezu unausweichlich. Eine Art “Gestalt sehen” ist vielmehr sogar Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt, insoweit diese Art der gemeinsamen, identischen Wahrnehmung überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit der kollektiven Anstrengung der Angehörigen des Denkkollektivs darstellt.

Und dieses “Gestalt sehen” muss quasi rituell eingeübt werden, wie es Fleck ironisch am Beispiel der Wassermann-Reaktion zum Nachweis des Syphilis-Erregers beschreibt: “Wir wollen nun die Einführungsweihe in das Gebiet der Wassermann-Reaktion vornehmen und zwar nach deutschem Ritus. Ich wählte den Katechismus von Citron, einem Schüler Wassermanns, in der Ausgabe von 1910, die als Lehrbuch noch ziemlich brauchbar, aber von der Spitze der Forschung schon überholt ist.” (S.74 in der erwähnten Suhrkamp-Ausgabe.)

Schattenseite dieses Phänomens ist eben, dass sich gewisse grundlegende Denkstile (“Paradigmen”) derart fest verankern, dass es mitunter jahrzehntelang dauert, bis sich ein neues Paradigma, ein neuer Denkstil durchsetzt, wobei dies laut Fleck nicht in Form eines radikalen Bruchs (einer “Revolution”), sondern “schleichend”, unter der Hand geschieht. Ein Beispiel dieses eingebauten Widerstands gegen Veränderung aus dem Bereich der Mikrobiologie (von Stephen Cooper) habe ich hier in meinem Textfragment wissenschaft erwähnt.

Aus dieser Betrachtung könnte m.E. eine weitere Schlussfolgerung gezogen werden: Nämlich dass die Eigenschaft, in einem beliebigen wissenschaftlichem Gebiet Laie zu sein, den Vorteil der Unvoreingenommenheit mit sich bringt. Wer nicht “rituell” in bestimmte Denkstile “eingeweiht” wurde, wird von den selben auch nicht in seiner Wahrnehmung behindert. Oder sprichwörtlich ausgedrückt: Man/frau kann vielleicht dort den Wald sehen, wo die WissenschafterInnen bloß Bäume wahrnehmen.

Ich hoffe jedenfalls, zur Lektüre von Ludwik Fleck angeregt zu haben.