Chinas Wirtschaft: Finanzielles Kartenhaus

[September 2003]

China soll seine Währung aufwerten, um der Weltwirtschaft zu helfen. Doch die Wirtschaft des Landes ruht auf einem finanziellen Kartenhaus.

Rekordexporte, Rekord bei den Währungsreserven, weltweite Destination Nr. 1 für Auslandsinvestitionen im Vorjahr, Industrieproduktion im Juli um 16,5% höher – Chinas Wirtschaft macht in der Tat einen robusten Eindruck. Die fixe Bindung des Yuan an den US-Dollar bedeutet, dass chinesische Produkte immer billiger werden, je weiter der Dollar fällt. China, so heißt es daher immer resoluter aus Brüssel, Tokio und Washington, soll einen Beitrag zur Belebung der Weltwirtschaft leisten, aufwerten und nicht länger den Weltmarkt mit Exporten überschwemmen. Doch bisher blieb Beijing hart.

In der offiziellen People’s Daily wurde Mitte August zu Recht auf den Wahlkampfcharakter dieser Forderung in den USA verwiesen – und auf Experten wie den Chefökonomen der Investmentbank Morgan Stanley, Stephen Roach, die dem Ansinnen auch aus US-Sicht nichts abgewinnen können. Nicht nur wird China die Währungsreserven brauchen, um die mit der WTO-Liberalisierung zu erwartenden Handelsbilanzdefizite zu finanzieren. Auch ist der diesjährige Handelsüberschuss Chinas mit sechs Mrd. Dollar bis Ende Juli gering. Und warum sollte China seine ohnehin sinkenden Zollbarrieren per Aufwertung ihrer Schutzfunktion berauben?

Kaum erwähnt wird aber Wesentlicheres: Chinas Wirtschaft steht auf tönernen Füßen – einem Finanzsektor, der sich ausnimmt wie ein Kartenhaus. Das dominierende Staatsbankensystem leidet unter gewaltigen faulen Krediten, die auf mehr als 40% des Kreditvolumens geschätzt werden, die Staatsverschuldung läuft aus dem Ruder (siehe Grafiken), und im Hintergrund schwebt drohend das Damoklesschwert der Pensionsverpflichtungen, die mehr als 1.000 Mrd. Dollar betragen könnten. Der gesamte Finanzierungsbedarf erreicht je nach Schätzung bis zu 150% des Bruttoinlandsprodukts.

Dazu kommt Zeitdruck: Aufgrund der WTO-Verpflichtungen für den Finanzsektor wird die Inländerbehandlung ausländischer Banken im Privatkundengeschäft laufend geographisch ausgedehnt. Ab Ende 2006 können sie den Staatsbanken im ganze Land die Ersparnisse der ChinesInnen abjagen, die derzeit die Banken über Wasser halten und die zinsgünstige Finanzierung der Staatsschulden ermöglichen.

Die prekäre Lage der vier großen staatlichen Geschäftsbanken ist eine Folge staatlich verordneter Kredite an ineffiziente Staatsbetriebe (SOEs), die nicht zahlen können oder es nicht wollen. Die SOEs stellen 20-25% der Produktion, verschlangen aber bis vor kurzem drei Viertel der Bankkredite des Landes.

Bisher ist das Problem ungelöst. Zwar wurden 1998/99 vier Gesellschaften (Asset Management Companies, AMCs) gegründet, die, finanziert mit staatlichen Krediten und Anleihen, den vier Banken 170 Mrd. Dollar der faulen Schulden zum Buchwert abnahmen. Selbst danach lag der Anteil fauler Kredite bei den Big Four (Bank of China, China Construction Bank, Industrial and Commercial Bank of China [ICBC], Agricultural Bank of China) offiziell noch immer bei rund 25%. Nur ein geringer Teil der Schuldtitel konnte bisher verkauft werden, und mehr als 15% des Buchwerts wird dabei kaum herausspringen, schätzt die Ratingagentur Standard & Poor.

Damit ist auch die chinesische Zentralbank (PBC) selbst gefährdet, da sie zufolge einer Analyse der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich einer der Hauptgläubiger der AMCs ist. Und um das Bild eines maroden Finanzsektors komplett zu machen: Mit den 42.000 ländlichen Kreditgenossenschaften könnte es noch weit schlimmer aussehen als mit den Big Four, und der Versicherungssektor ist ebenfalls massiv unterdeckt – die vor 1998 versprochenen Renditen lassen sich beim aktuell niedrigen Zinsniveau nicht erwirtschaften.

Wie die zukünftigen Pensionen finanziert werden sollen, steht in den Sternen. Eine potenzielle Geldquelle wäre der Verkauf der staatlichen Anteile (ca. 65%) an den börsenotierten SOEs. Aber schon die Ankündigung, Emissionserlöse zum Teil in den Nationalen Fonds für Soziale Sicherheit abzuzweigen, führte zweimal hintereinander, im Juni 2001 und Jänner 2002, zu einem Kursverfall an den chinesischen Börsen, der beim ersten Mal 30% erreichte. Derzeit sieht es nicht so aus, als ob sich Beijing mittels Privatisierung sanieren könnte.

Selbst bei hohen Wachstumsraten sind diese Probleme gewaltig. Aber was, wenn Chinas Wirtschaftswachstum bloß ein statistisches Artefakt ist? Daten aus Beijing sind zwar vielen ÖkonomInnen suspekt, doch am weitesten geht der Chinaexperte Thomas Rawski von der University of Pittsburgh, der die Aussagekraft der offiziellen Statistiken seit 1998 (dem Jahr der Asienkrise) völlig in Abrede stellt. Im schlimmsten Fall wäre Chinas Ökonomie von 1998-2001 laut Rawski nicht um 34,5% (offiziell), sondern nur um 0,4% gewachsen, im besten Fall um 11,4%. Als ein Indiz unter vielen zitiert Rawski Ex-Regierungschef Zhu Rongji im März 2002: “Hätten wir nicht eine proaktive Budget- und vorsichtige Geldpolitik betrieben, wäre die chinesische Wirtschaft vielleicht zusammengebrochen.” Der Beitrag der Staatsausgaben zur jährlichen Wachstumsrate wird aber offiziell mit maximal 2% beziffert, was immer noch rund 5-6% Wachstum übrig lässt – eine derart wachsende Wirtschaft steht aber nicht am Rande des Kollaps, so Rawski.

Rasches Wachstum wäre jedenfalls essenziell, um das Problem der faulen Kredite zu verringern. Denn alles ist weniger schlimm, wenn der Anteil der “guten” Kredite zunimmt: So hat sich etwa die ICBC auf Hypothekarkredite an Privatkunden verlegt, die als relativ gute Risiken gelten, und deren Anteil an ihrem Aktivgeschäft in den letzten vier Jahren auf 10% verzehnfacht. Aber was, wenn die neuen Kredite genauso faul werden wie die alten?

Genau das ist nicht auszuschließen. Im ersten Halbjahr 2003 verzeichnete China die rascheste Ausweitung der Kreditschöpfung seit 1996 und ein Rekordwachstum der Geldmenge M2 (Bargeld, Sichteinlagen und Termineinlagen) – letzteres auch deshalb, da die PBC die überschüssigen Dollars aufkauft, um dem Aufwertungsdruck entgegenzuwirken. Eine dadurch hervorgerufene Inflation wäre das Äquivalent einer Aufwertung des Yuan.

Von Inflation ist allerdings wenig zu bemerken. Es sieht eher nach Überliquidität und Überinvestitionen bei schwacher Konsumnachfrage aus: Die Verbraucherpreise stiegen zuletzt bloß um 0,3%, die Spareinlagen erreichten Ende Juli ein Rekordniveau von 1.280 Mrd. Dollar. Die Banken schleusen derart viel Geld in den Bau- und Immobiliensektor, dass die PBC eine spekulative Blase befürchtet. Seit Monaten versucht die Zentralbank, die Kredite insbesondere für Immobilienprojekte und Eigenheime einzudämmen, und sie deutete bereits an, eventuell die Kreditschöpfung durch eine Erhöhung der Mindestreserven der Geschäftsbanken bei der PBC zu begrenzen.

Aber das Problem könnte umfassender sein. Mitte August warnte die Kommission für Nationale Entwicklung und Reform (NDRC) vor den Folgen fehlgeleiteter, massiver Überinvestitionen in Sektoren wie der Auto-, Stahl, Zement und Aluminiumindustrie. Die Hauptschuld wird lokalen Regierungen zugeschrieben, die unkontrolliert von Beijing überflüssige, technologisch veraltete Prestigeproduktionen auf Kredit errichten. Und auch die Telekom-Branche stößt an ihre Grenzen. China Mobile, die mit der staatlichen Mutter China Mobile Communications drei Viertel der 235 Mio. chinesischen MobilfunkteilnehmerInnen versorgt, sprach Mitte August von einem “gesättigten High-End-Mobiltelefonmarkt” und “sinkenden Umsätzen pro TeilnehmerIn”.

Die Investmentbank UBS interpretierte diese Phänomene Mitte August als “Überhitzung”. UBS erwartet eine Reduktion des zuletzt auf 12% geschätzten Wachstums im nächsten Jahr auf 7-8% und eine weitere Abschwächung im Jahr 2005. Doch 7-8% Wachstum gelten in Beijing als Minimum, um die jährlich acht Millionen zusätzlichen Arbeitskräfte integrieren zu können. Und der Rest? Allein bis Ende Juni wurden nach offiziellen Angaben weitere 3,7 Mio. Beschäftigte von SOEs entlassen, und manchen Schätzungen zufolge gibt es in China bis zu 270 Mio. Arbeitslose oder Unterbeschäftigte.

Sinkendes Wachstum gerade in den kommenden Jahren, der Galgenfrist bis zum vollständigen Markteintritt ausländischer Banken? Es könnte nicht ungelegener kommen, denn das bedeutet, dass sich die Finanzprobleme bis dahin keinesfalls “auswachsen” werden. Eine Hauptquelle der Staatseinkünfte, die Zolleinnahmen, stehen bereits durch die Handelsliberalisierung unter Druck. Woher also das Geld nehmen, wenn nicht durch weitere Verschuldung, was jedoch auch die chinesische Führung selbst als riskant einschätzt? Vielleicht behalten AnalystInnen mit ihrer Auffassung recht, China würde sich irgendwie “durchwurschteln”. Aber die zentrale Frage ist nicht, ob China die Weltwirtschaft retten kann, sondern sich selbst.

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