Wissenschaft und Glaube – eine ironische Wende

Der Erfolg der modernen Wissenschaft scheint zusehends jenen blinden Glauben, den zu bekämpfen sie ursprünglich antrat, nicht nur zu verstärken, sondern sogar vorauszusetzen (1). Gleichzeitig haben öffentliche Institutionen und die Medien die Fähigkeit oder den Willen verloren, eine Kontrollfunktion zu übernehmen; sie ziehen es stattdessen vor, beliebige “wissenschaftliche” Ansichten zu propagieren, die tatsächlich oder vermeintlich ihren Interessen dienen.

Unsere Wirtschaft wird oft als “Wissensökonomie” beschrieben, in der Wissen, wie auch immer verstanden, Wettbewerbsvorteile sowohl von Einzelpersonen, Unternehmen als auch ganzen Nationen bestimmt. Dementsprechend ähnelt unsere Gesellschaft auch immer weniger einer Demokratie, sondern eher einer Expertokratie: Sowohl die Quantität des von ExpertInnen und wissenschaftlichen Gemeinschaften akkumulierten Wissens als auch die Kluft zwischen ihrem Fachwissen und dem Kenntnisstand der übrigen Gesellschaft wird täglich größer.

Zum Verlust der Kontrollfunktion der Medien am Beispiel der Online-Berichterstattung des ORF siehe Kasten Handymasten und Hirnströme.

Dem von mir im nebenstehenden Text erwähnten polnischen Mediziner und Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck (1896-1961) widmete der ORF Hörfunk am 29. Dezember 2004 eine eigene Sendung (“Dimensionen”). Dabei wurde allerdings m.E. und zu meinem Bedauern der Tragweite der Ausführungen Flecks nicht gebührend Rechnung getragen.

Siehe auch meinen Kommentar Ludwik Fleck, who? und diese neue Website zu Person und Werk: www.ludwikfleck.de.

durch die fragmentierung wissenschaftlichen wissens …

Nicht nur das. Auch die ExpertInnen selbst und ihre Wissensgebiete sind zunehmend fragmentiert und voneinander isoliert. Das “Nichtwissen” und die damit einhergehende Entmachtung der Mehrheit werden daher zu einer bestimmenden Eigenschaft unserer Gesellschaft. Debatten mit großer Bedeutung für die gesellschaftliche Weiterentwicklung finden zunehmend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Entscheidungsprozesse werden de facto von einer immer kleineren Elite an der Spitze der Wissens- und Machtpyramiden monopolisiert.

und die kosten der informationsbeschaffung …

Dieser Prozess verstärkt sich selbst. Es wird immer aufwendiger (Zeit/Geld), sich ausreichende Informationen zu beschaffen, um sich eine “informierte Meinung” in einem Wissensgebiet außerhalb der eigenen beruflich oder anderweitig erworbenen Kompetenz zu bilden. Es ist daher zu erwarten, dass immer mehr Menschen dazu neigen werden, das erst gar nicht mehr zu versuchen: Sie werden sich damit abfinden, dass sie sich auf das verlassen müssen, was ExpertInnen, die Medien, die Behörden oder ihre Bezugsgruppen sagen oder glauben, womit die Grundlage für eine informierte Beteiligung an Entscheidungsprozessen und für “Dissens” im allgemeinen Sinne immer schmäler wird. Das gilt für “gewöhnliche Leute” ebenso wie für politische EntscheidungsträgerInnen, die mehr und mehr auf Beratung durch ExpertInnen angewiesen sind.

wird wissen(schaft) beinahe unhinterfragbar …

Die einer solchen Entwicklung innewohnenden Gefahren wurden von US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede hervorgehoben. Er warnte einerseits davor, dass die zunehmende öffentliche Finanzierung der Forschung dazu führen könnte, dass die Politik die Wissenschaft am Gängelband hält, setzte dann aber fort: “Doch bei allem Respekt, den wir wissenschaftlicher Forschung und Entdeckung schulden, müssen wir auch gegenüber der ebenbürtigen und umgekehrten Gefahr wachsam sein, dass die Politik ihrerseits zur Gefangenen einer wissenschaftlich-technischen Elite werden könnte.” (2)

zu einem gegenstand des glaubens …

Bedauerlicherweise ist es zunehmend wahrscheinlich, dass die Öffentlichkeit nicht mehr beurteilen kann, inwiefern die Politik bereits von einer solchen Elite beherrscht wird. Ebenso wie die Menschen in früheren Zeiten bedingungslos zu akzeptieren hatten, was von religiösen oder anderen selbsternannten weltlichen Autoritäten als “Wahrheit” proklamiert wurde, scheinen wir heute akzeptieren zu müssen, was ExpertInnen und spezialisierte WissenschaftlerInnen für “wahr” halten. Wir erleben eine ironische Wende in der westlichen Geschichte: Der Erfolg der modernen Wissenschaft, als Verkörperung des vernünftigen Strebens nach Wahrheit, scheint ihre vormalige Antithese, den blinden Glauben, nicht nur zu verstärken, sondern geradezu vorauszusetzen.

oder relativistischer geringschätzung …

Das Internet ist vielleicht ein gegenläufiger Faktor: Es erhöht die Zugänglichkeit von Information, was ihre sowohl in Geld als auch Zeit gemessenen Beschaffungskosten betrifft. Das Grundproblem, die wachsende Kluft zwischen ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen sowie innerhalb der ExpertInnen selbst, bleibt jedoch unberührt, und Abhilfe ist nicht in Sicht. Wir könnten es mit einem langfristigen Trend zu einer “postmodernen” Kultur zu tun haben, insoweit wissenschaftliches Wissen nicht mehr als etwas verstanden wird, das sich grundsätzlich von anderem Wissen unterscheidet, das auf weniger rational bestimmten oder nicht rationalen Weltanschauungen beruht. Dabei hat das “Wissen” der letzteren oft einen wichtigen Vorteil, der mit seinem meist am Alltagsleben orientierten Verwendungszusammenhang in Verbindung steht: Sein Wahrheitsgehalt lässt sich auf persönlicher Ebene per Versuchs- und Irrtumsverfahren abschätzen, was bei wissenschaftlichem Wissen oft oder sogar zumeist nicht der Fall ist.

Handymasten und Hirnströme

Am 27.4.2005 veröffentlichte science.orf.at eine offenbar von der Austria Presse Agentur (APA) übernommene Meldung unter dem Titel Studie: Auch Handy-Masten beeinflussen Hirnströme.
Darin heißt es gleich im ersten Absatz: “In einer Salzburger Studie wurde weltweit erstmals nachgewiesen, dass nicht nur die Strahlung eines Handys zu einer Veränderung von Gehirnströmen führen kann, sondern auch jene von Mobilfunk-Sendeanlagen.”

Die diversen Postings unter dem Artikel sind zwar unterschiedlichen Niveaus, beruhigend aber immerhin, dass einigen LeserInnen aufgefallen ist, dass mit der im Artikel beschriebenen Studie der behauptete “Nachweis” niemals gelingen kann. Es ist nicht einmal auszuschließen, dass das Ergebnis aufgrund von Auto- und Fremdsuggestionen zustande kam.
Nichts davon aber hielt APA und ORF davon ab, einen “wissenschaftlichen Nachweis” zu verkünden. Tatsächlich wird die Öffentlichkeit tagtäglich mit derartigen Falschmeldungen bombardiert. (Nur zur Klarstellung: ich bin keineswegs von der Ungefährlichkeit der Mobilfunktelefonie überzeugt.)

wobei den medien die entscheidende rolle zukommt …

Auf der institutionellen Ebene benötigt die Expertokratie eine Schnittstelle, um die Kluft zwischen den “Wissensfabriken” einerseits und politischen EntscheidungsträgerInnen und der Öffentlichkeit andererseits zu überbrücken. Zu dieser Schnittstelle gehören natürlich die Medien – angefangen von spezialisierten Wissenschaftsjournalen bis zu praktisch jeder Fachredaktion größerer Printmedien oder Fernsehstationen. Ebenso zur Schnittstelle gehört der Bereich der Finanzierung und Steuerung wissenschaftlicher Forschung sowie die Regeln, die bei der Produktion von “Wissen” oder dem, was als solches gilt, angewendet werden, inklusive der Verfahren zur Festlegung solcher Regeln. In diesem Bereich genießen wissenschaftliche Gemeinschaften das Privileg der Selbstverwaltung oder Selbstbestimmung.

und die “selbstverwaltung” der wissenschaft in frage gestellt scheint …

Die “Freiheit der Wissenschaft” gehört zu den anerkannten Grundfreiheiten westlich-demokratischer Gesellschaften. Das bedeutet, dass wir – die Öffentlichkeit – in die Fähigkeit wissenschaftlicher Gemeinschaften vertrauen, Normen, Regeln und Verfahren festzulegen und einzuhalten, die dafür sorgen, dass Wissenschaft letztlich dem Allgemeinwohl dient. Lassen wir einmal die Tatsache außer Acht, dass ein wachsender Teil der Forschung im Privatsektor und unter marktorientierten Rahmenbedingungen betrieben wird, um Gewinne zu erwirtschaften. Das hat natürlich bedeutende Auswirkungen darauf, WORÜBER geforscht wird. Aber es sollte nichstdestotrotz Sicherungen geben, dass ein Forschungsergebnis bestimmte Standards erfüllt, bevor es als “wissenschaftlich bewiesen” und daher anwendbar erachtet wird.

etwa durch versagen des “peer review”-systems …

Diese Standards unterscheiden sich natürlich je nach wissenschaftlichem Gebiet. Aber das wichtigste derartige Sicherungsverfahren ist das so genannte “Peer Review”-System. Wissenschaftliche Papers müssen von mehreren ExpertInnen des jeweiligen Fachgebiets unabhängig voneinander geprüft werden, bevor sie zur Veröffentlichung freigegeben werden.
In den letzten Jahren wurde das Vertrauen in dieses Verfahren durch einige mit hoher medialer Aufmerksamkeit bedachte Skandale erschüttert, insofern sich einige einer “Peer Review” unterzogene wissenschaftliche Papers im Nachhinein als mangelhaft, als Plagiate oder glatter Betrug herausstellten.

Hwang Woo Suk

Und wieder ein Skandal: Der südkoreanische “Klonforscher” Hwang Woo Suk hat offensichtlich seine abgefeierte und in Science publizierte Studie über die Herstellung “maßgeschneiderter” Stammzellen zur Gänze gefälscht. Siehe etwa Sensationsstudie total gefälscht (Standard, 22.2.2006) bzw.
Kontrolle der Wissenschaft versagt (Standard, 22.2.2006).

beginnend mit fällen von absichtlichem betrug …

Da wissenschaftliche Gemeinschaften als eine Art exklusiver Klubs betrachtet und ihre Mitglieder oft sogar verdächtigt werden, bezahlte Agenten der Industrie zu sein, ungeachtet der innerwissenschaftlichen Konkurrenz, werden Versicherungen der Wissenschaft, dass wir es dabei nur mit ein paar schwarzen Schafen unter Millionen von weißen zu tun hätten, das Problem nicht vom Tisch wischen können. Genausogut könnte angenommen werden, dass es sich bloß um die Spitze eines Eisbergs handelt (siehe etwa Fehlverhalten unter Forschern weitverbreitet, ORF Online, 9.6.2005). Allein der Umstand, dass derartig widersprüchliche Einschätzungen der wissenschaftlichen Praxis nebeneinander aufrechterhalten werden können und keine Chance besteht, die eine oder andere These einer gründlichen Realitätsprüfung zu unterziehen, ist ein weiteres Indiz dafür, dass hier irgendetwas falsch läuft.

Eines der Gebiete, wo das Peer Review-System völlig zusammengebrochen zu sein scheint, ist die wissenschaftliche Forschung über AIDS und HIV. Einen Eindruck davon bietet der Artikel The Case of HIV: We Have Been Misled” von Serge Lang, ursprünglich erschienen in Yale Scientific, Spring 1999, Volume 72, Nos. 2 & 3, pp. 9-19.

bis hin zu denkblockaden und machtspielen …

Dass Forschungspapers die Hürde der Peer Review nehmen und in irreführender Weise als wissenschaftliche Erkenntnis in die Schlagzeilen geraten können ist nur eine Seite der Medaille. Das Gegenteil kann ebenso vorkommen: Forschungspapers können fälschlich abgewiesen und unterdrückt werden, weil ihre Ergebnisse nicht zur vorherrschenden Sicht passen oder sogar grundlegende Annahmen oder etablierte Paradigmata in Frage stellen. WissenschaftlerInnen sind ja schließlich auch Menschen und daher nicht vor Denkblockaden, Abwehrmechanismen und Druck der eigenen Bezugsgruppe gefeit, von ethisch verwerflicheren Verhaltensweisen ganz zu schweigen.

was wissenschaft als menschliches unterfangen nicht vermeiden kann …

Es könnte angenommen werden, dass es sich bei dieser zweiten Variante eines Versagens der wissenschaftlichen Selbstverwaltung um ein eher seltenes Ereignis handelt. Stephen Cooper, ein Wissenschaftler der Abteilung Mikrobiologie und Immunologie der Medical School der University of Michigan, ist da anderer Meinung. Er war von einem derartigen Versagen betroffen, das sich auf eine alternative Sicht des eukaryotischen Zellzyklus bezog, und kam zu folgender Schlussfolgerung: Es gibt bestimmte soziologische Eigenschaften von “Denkkollektiven”, die zu einer Vorherrschaft des kollektiven Glaubens gegenüber experimentellen Beweisen führen, und dass dieser Umstand erklären kann, warum manche Vorstellungen hartnäckig aufrechterhalten werden. Mehr zu seiner Geschichte gibt es hier (im Format pdf).

wie Ludwik Fleck betont hat …

Zu diesem Schluss kam Cooper mit der Hilfe eines Buchs des polnischen Mediziners und Wissenschaftssoziologen Ludwik Fleck, das ursprünglich 1935 auf Deutsch erschien und 1979 auf Englisch unter dem Titel “”Genesis and Development of a Scientific Fact” neu veröffentlicht wurde (3). Der 1961 in Israel verstorbene Fleck wurde einer größeren Öffentlichkeit bekannt, weil er von Thomas Kuhn in dessen Werk “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” (1962) erwähnt worden war. Einen Essay über den Einfluss Ludwik Flecks auf Thomas Kuhn kann hier gelesen werden.

und eine manipulation durch einflussgruppen erleichtert.

Nächster Teil (geplant, aber nicht realisiert):
Expertokratie und Medizin.

Alles bisher Gesagte trifft auf alle Wissenschaftsgebiete zu. Ich möchte mich aber auf eines davon als das für Politik und Öffentlichkeit wichtigste konzentrieren, nämlich die Medizin.

Es gibt zumindest drei Gründe für diesen Schwerpunkt.

  • Erstens hat sie von allen Wissenschaftsgebieten den bei weitem stärksten Einfluss auf unser Leben: Unser persönliches Wohlergehen, unsere Fähigkeit, das Leben zu genießen und sogar unser Überleben kann von ihren Erfolgen und Misserfolgen abhängig sein.
  • Zweitens verschlingt ihre praktische Anwendung in öffentlichen oder privaten Gesundheitsinstitutionen einen beeindruckenden Teil unseres Bruttonationalprodukts, und ihre Kosten werden mit der weltweit fortschreitenden Alterung unserer Gesellschaften weiter zunehmen.
  • Drittens können die Meinungen und Ratschläge medizinischer WissenschaftlerInnen weitreichende Folgen haben, insbesondere auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten: Eine tatsächliche, vermutete oder bloß behauptete schwere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit kann zu einer generellen Einschränkung oder Aufhebung bürgerlicher Rechte und Freiheiten und zu noch weit schlimmeren Konsequenzen führen. (Siehe auch Seuchenangst: Hello Orwell.)

    (1) Zum “blinden Glauben” gibt es ein heroisch wirkendes Zitat von Thomas H. Huxley (1825-1895), dem Großvater Aldous Huxleys: “The improver of natural knowledge absolutely refuses to acknowledge authority, as such. For him, scepticism is the highest of duties; blind faith the one unpardonable sin.”
    (2) Zitiert (vermutlich meine Übersetzung) aus dem Transkript auf Ourdocuments.gov unter www.ourdocuments.gov/doc.php?flash=false&doc=90&page=transcript
    (3) Die deutsche Version ist 1980 unter ihrem ursprünglichen Namen (“Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache”) im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main (stw 312) mit einer Einführung von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle erschienen.