Seattle: Wessen WTO?

[November 1999]

Editorial zum Thema WTO/Seattle 1999.

Vor etwas mehr als fünf Jahren, im Frühjahr 1994 in Marrakesch, setzten Regierungschefs und Handelsminister aus 123 Ländern ihre Unterschrift unter Verträge, die zur umfassendsten Liberalisierung des Welthandels in der Nachkriegsgeschichte führten: die Ergebnisse der Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986-1994) des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT. Gleichzeitig hoben sie mit der Welthandelsorganisation WTO eine Institution aus der Taufe, die seither für viele zum Inbegriff einer “Globalisierung” unter neoliberalen Vorzeichen wurde.

Im Rahmen einer “Millenniumsrunde” soll dieser Prozeß nun weiter vorangetrieben werden – auch durch eine weitere Öffnung der Märkte der Entwicklungsländer für die Unternehmen des Nordens. Das ist zumindest die erklärte Absicht der reichen Länder, wenn auch die USA etwa im Bereich Landwirtschaft andere Ziele verfolgen als die Europäische Union und Japan. Der Startschuß soll Ende November/Anfang Dezember während der WTO-Ministerkonferenz in Seattle im US-Bundesstaat Washington erfolgen. Denn noch ist die Sache nicht entschieden: Am WTO-Sitz in Genf, wo Handelsdiplomaten die entscheidende Ministererklärung vorbereiten, kommt es derzeit zu einer ungemein heftigen Konfrontation zwischen Nord und Süd.

Worum geht es? Die Mehrzahl der ärmeren Länder kämpft, wie unterschiedlich ihr Entwicklungsniveau auch sein mag, mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der raschen Liberalisierung des Handels und des Kapitalverkehrs. Der verheißene Nutzen des neuen Handelssystems, das in Marroko feierlich beschlossen wurde, ist aus ihrer Sicht nicht eingetreten. Im Gegenteil: Sie sehen eine ernste Gefahr, an den Rand gedrängt und ihrer Chancen auf Entwicklung beraubt zu werden. Sie fordern eine Überprüfung der Abkommen der Uruguay-Runde und eine Reform der Welthandelsregeln zu ihren Gunsten, und dies mit einem Nachdruck, der die bisherige Kontrolle der WTO durch den Norden in Frage stellt.

Für die Regierungen der reichen Länder wiederum steht vor allem ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel – einerseits bei ihren Unternehmenslobbies, die bisher recht gut bedient wurden, andererseits bei einer Öffentlichkeit, die der WTO zunehmend kritisch gegenübersteht. Wie die Auseinandersetzung ausgeht, ist nicht absehbar. Wir haben in unserem Schwerpunktthema vor allem versucht, Antworten auf die folgenden Fragen zu bieten: Was wollen die Entwicklungsländer von der WTO, und warum?

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